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23. Januar 2006. Analysen: Kunst & Kultur - Südasien Liebe jenseits der Ehe

Indiens Liebeskultur ist reich an mythologischen und literarischen Schriften, vielfältig und ambivalent in ihren Konzeptionen und Bedeutungen. Sie deckt eine Zeitspanne ab, die von den großen Epen ca. 500 vor Christus über die klassische Periode bis in die Literatur, Musik und Kunst der Gegenwart reicht. Die Präsenz der mythologisch-religiösen Traditionen im sozialen Alltag beeinflusst die gegenwärtigen Wertvorstellungen, die auch das Gefühls- und speziell das Liebesleben vieler Hindus strukturieren. In ihrem Artikel stellt die Autorin, Kerstin Gudermuth, mythologischen Grundlagen der Hindu-Vorstellungen über außereheliche Liebesbeziehungen und deren Rezeption im sozialen Alltag vor. Während die Ideale der ehelichen Liebe im Ramayana, einem Epos ca. 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. in der Konzeption von kama beschrieben wurden, finden sich die Ideale der außerehelichen Liebe vor allem in der Krishna-Geschichte im Bhagavata-Purana, und später im Gitagovinda, einem dramatisch-lyrischen Gedicht aus dem 12. Jahrhundert, mit der Konzeption von prema. Mit beiden Konzeptionen sind Verstehensmuster für die Liebe vorgegeben, die den Menschen auch im heutigen Indien vertraut sind. Kerstin Gudermuth ergründet dabei nicht nur pluralistische Hindu-Vorstellungen von zwischengeschlechtlicher Liebe, sondern untersucht - in Abgrenzung zu den Idealen der ehelichen Liebe - die Ideale der außerehelichen Liebe und ihre Bedeutung im sozialen Alltag dargestellt werden. Die Autorin geht dabei der Frage nach, ob die Ideale der Liebe jenseits der Ehe, welche im Religiösen die wahre und göttliche Liebe versinnbildlichen, auch Vorbild für außereheliche Liebesbeziehungen im sozialen Miteinander sein können und sind.

Indiens Liebeskultur ist reich an mythologischen und literarischen Schriften, vielfältig und ambivalent in ihren Konzeptionen und Bedeutungen. Sie deckt eine Zeitspanne ab, die von den großen Epen ca. 500 vor Christus über die klassische Periode bis in die Literatur, Musik und Kunst der Gegenwart reicht. Die Präsenz der mythologisch-religiösen Traditionen im sozialen Alltag beeinflusst die gegenwärtigen Wertvorstellungen, die auch das Gefühls- und speziell das Liebesleben vieler Hindus strukturieren. In diesem Artikel möchte ich die mythologischen Grundlagen der Hindu-Vorstellungen über außereheliche Liebesbeziehungen und deren Rezeption im sozialen Alltag vorstellen.[1]

Dazu sind vorab einige Anmerkungen vonnöten. Mit Liebe im Zusammenhang steht die kosmologische Idee der Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten (moksha/mukti), die den hinduistisch-religiösen Kontext durchzieht. Liebe wurde und wird im Hinduismus immer auch als Weg zur Erlösung konzipiert. Der Hinduismus bietet ein Stufenmodell der Liebe. Dabei lassen sich zwei Ideale bzw. Grundhaltungen von Liebe unterscheiden: die eheliche Liebe und die außereheliche Liebe. Ausgearbeitet wurden diese in der Vaishnava-Tradition, deren Anhänger den Gott Vishnu, bzw. seine avatara (göttliche Inkarnation) Rama oder Krishna als höchsten Gott verehren. Die Ideale der ehelichen Liebe sind im Ramayana, einem Epos ca. 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. in der Konzeption von kama beschrieben. Die Ideale der außerehelichen Liebe wurden in der Krishna-Geschichte im Bhagavata-Purana, und später im Gitagovinda, einem dramatisch-lyrischen Gedicht aus dem 12. Jahrhundert, mit der Konzeption von prema beschrieben und in der darauffolgenden Vaishnava-Philosophie ausgearbeitet. Beide Liebesformen sollen idealerweise zur Erlösung führen. Kama oder die eheliche Liebe beschreibt den konventionellen Weg des moralischen Handelns in der sozialen Welt und postuliert die bedingungslose Hingabe an Ehepartner und Familie, gebunden an die Normen und Regeln der Gesellschaft. Prema oder die außereheliche Liebe negiert die sozialen Konventionen und ist die wahre und höher gewertete Liebe in der selbstlosen Hingabe an Gott. Das Modell für diese Hingabe ist die sozial illegitime außereheliche Liebe zwischen Radha und Krishna.

Mit beiden Konzeptionen sind Verstehensmuster für die Liebe vorgegeben, die den Menschen auch im heutigen Indien vertraut sind. Prema ist dabei ein Modell für die Suche nach Gott. Aber ist prema auch Vorbild für Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau, die den sozialen Normen widersprechen? Zum Verständnis der Liebesvorstellungen in Indien sollen zunächst kurz die Bedeutungen der ehelichen Liebe erläutert werden.

1. Die sozialen Konventionen der Liebe

Obgleich der weitaus größte Teil der heutzutage geschlossenen Ehen im hinduistischen Indien von den Eltern arrangiert wird, wird die Hinduehe als Liebesgemeinschaft verstanden. Aus westlicher Sicht scheint dies ein Widerspruch zu sein. Der westlichen Ehe geht die Liebe voraus, in Indien sollte es den Normen entsprechend umgekehrt sein - die Liebe entwickelt sich in der Ehe. Der Praxis der arrangierten Heiraten liegen verschiedene Vorstellungen zugrunde. Wesentlich ist, dass die Ehepartner sich nicht als Individuen verstehen, autonom und nur für sich selbst verantwortlich, sondern dass beide Familien der Ehepartner durch die Ehe in Verbindung treten, die soziale Konsequenzen nach sich zieht. Heirat erfolgt im Interesse der sozialen Bezugsgruppe, das der Bewahrung der Familienehre, der relativen Reinheit der Kaste, den affinalen Beziehungen, dem Status der Familie etc. gilt.[2] Aus diesen Gründen ist die Wahl des Heiratspartners so entscheidend, dass sie nicht den jungen (unerfahrenen) Menschen überlassen werden sollte. Zusätzlich regeln die sozialen Strukturen der Hindugesellschaft die Grenzziehungen zwischen Jungen und Mädchen in öffentlichen Bereichen wie Schule, Sport und Freizeitaktivitäten und auch im privaten Bereich der Familie.

Doch das Arrangement der Heirat steht der Liebe in der Ehe nicht entgegen, sondern viele Hindus sind überzeugt, dass gerade dadurch Liebe ent- und dauerhaft bestehen kann. Liebe ist ein zentrales gesellschaftliches Thema vor, in und jenseits der Ehe. Der hervorragende Wert der Liebe innerhalb der Ehe ist die Hingabe. Allerdings unterscheiden sich die Inhalte dieses Wertes für Mann und Frau. Die junge Ehefrau erwirbt die Liebe ihres anvertrauten Mannes und ihrer Schwiegerfamilie durch ihre Bescheidenheit, Treue und ihr aufopferndes, anhaltendes Dienen. Vom Ehemann wird nicht das gleiche Maß an Bescheidenheit, Treue und Dienen erwartet. Seine Pflichten bestehen in erster Linie in Hinsicht auf dem ökonomischen Wohlergehen und der Sicherheit der gesamten Familie (die Ehefrau eingeschlossen). Sie dient ihm, er dient der Familie. Für das Erfüllen ihrer familiären Rollen innerhalb der Großfamilie können beide Ehepartner die anhaltende und großzügige Zuneigung der Familie und die Ehefrau zusätzlich ihre ökonomische Sicherheit erwarten.

Diese Ideale sind in der Mythologie versinnbildlicht durch Rama und Sita im Ramayana, beschrieben mit der Konzeption kama. Das Ramayana erzählt die Heldengeschichte von Rama, einem Königssohn und der bedingungslosen Hingabe seiner Frau Sita, die selbst den Tod nicht scheut, wenn dieser das Leben ihres Ehemannes retten könnte. Das Ramayana ist nicht irgendein Mythos, sondern der Mythos, auf den sich Menschen beziehen, wenn sie über die ideale Ehe reden. Das heißt natürlich nicht, dass alle Menschen diesen Idealen nachstreben.

Die soziale Realität der Liebe innerhalb der Ehe verändert diese Ideale in viele Variationen. Doch die Bedeutung der Ideale bleibt unumstoßen durch die anhaltende Rezeption der Texte im sozialen Alltag. Gleichzeitig ist dieses Ideal der bedingungslosen Hingabe nicht die höchste Form von Liebe. Die Liebe in der Ehe sollte idealerweise bedingungs- und selbstlos sein, aber kann niemals frei von Erwartungen sein. Auch wenn die bedingungslose Hingabe der Ehefrau an ihren Mann und seine Familie nicht im gleichen Maße beantwortet wird, so kann sie doch als Gegenwert ihre ökonomische und physische Sicherheit und ihr Aufgehobensein in der Familie erwarten. Dies macht sie der außerehelichen Liebe dem Ideal nach unterlegen. Die Vaishnava-Philosophie postuliert eine Hierarchie der Liebe, die sich an der Erlösung ausrichtet. Kama oder die eheliche Liebe ist aufgrund der Erwartungen begrenzt und deshalb prema oder der außerehelichen Liebe untergeordnet. Die wahre Liebe ist die Liebe, welche die Konventionen missachtet, nur den Geliebten zum Ziel hat und nur um der Liebe willen.

Oft sind sich selbst als glücklich verheiratet bezeichnende Hindus der Meinung, das die wahre Liebe lediglich jenseits der Ehe – und damit jenseits zentraler gesellschaftlicher Normen - realisierbar sei. Was genau ist damit gemeint? Oder anders gefragt, sind queere Verbindungen im Sinne von der Norm abweichende Beziehungen Ausdruck wahrhaftiger Liebe? Die Antwort ist ein klares Nein. Aber ihre Komplexität – vor allem auch mit Blick auf unterschiedliche Vorstellungen inner- und außerhalb der sozialen Welt – soll nun hier erörtert werden.

2. Liebe jenseits der ehelichen Grenzen

2.1 Das Ideal

Das Ideal der außerehelichen Liebe, wird in der Geschichte von Krishna und Radha beschrieben. Exemplarisch steht hierfür der Gitagovinda, ein Gedicht, das der Verehrung Krishnas als Gott gewidmet ist. Der Gitagovinda beschreibt die leidenschaftliche Liebe zwischen Krishna und der Hirtenfrau Radha. Die von ihm inspirierten literarischen und religiösen Texte, Theaterstücke, Musik, Kunst und Film reichen bis in die Gegenwart. Die Krishnageschichte ist in Indien allgemein bekannt und geliebt.

Im Gitagovinda ist Radha eine verheiratete Hirtenfrau, die durch die Anmut des jugendlichen Krishna derart angezogen wird, dass sie ihre Ehe, ihren sozialen Status und ihre emotionale und ökonomische Sicherheit riskiert, um ihre Sehnsucht nach Krishna erfüllt zu bekommen. Die gesamte Handlung spielt außerhalb der sozialen Grenzen. Radha durchquert den nächtlichen Wald, um zu ihrem Stelldichein mit dem Geliebten zu gelangen. Doch zu ihrer Überraschung findet sie Krishna im erotischen Tanz mit den anderen Hirtenfrauen des Dorfes. Dieser Anblick erregt ihre Eifersucht, steigert aber gleichzeitig ihr Begehren und entfacht ihren Stolz. Sie will Krishna für sich allein.

Das Gedicht beschreibt die emotionalen Zustände und Phantasien, die Radha in ihrem unerfüllten Verlangen zu Krishna durchlebt. Krishna wendet sich ihr abwechselnd zu und wieder von ihr ab. Thema des Gitagovinda sind die wechselnden Zustände von Trennung und Vereinigung und Radhas wachsenden Gefühlen von Eifersucht, Trennungsschmerz, leidenschaftlicher Anziehung und Begehren. Ihre Eifersucht in den Zeiten der Trennung steigert ihr Verlangen, ihre Leidenschaft und ihre Sehnsucht nach Krishna.

Die Sehnsucht der Radha, die die Leidenschaft nährt, wird in der Vaishnava-Theorie[3] zum Maßstab der Liebe, mit folgender Begründung. Die Sehnsucht entsteht und intensiviert sich in den Phasen der Trennung, die aufgrund der sozialen Illegitimität dieser Beziehung zwangsläufig sind. Die zwangsläufigen Trennungen machen die Beziehung unsicher und unkontrollierbar für die Partner. Die Treffen sind nicht vorhersehbar und jedes Mal besteht die Angst, dieses Treffen könnte das letzte sein. Die soziale Illegitimität dieser Beziehung birgt darüber hinaus, zumindest für Radha, die Gefahr, soziale Achtung und schließlich auch materiellen Wohlstand zu verlieren. Insofern birgt eine solche Liebe im Unterschied zur ehelichen Liebe, wie sie durch Sita symbolisiert wird, Risiken. Gleichzeitig ist sie jedoch frei von allen ehelichen Erwartungen, die die Partner im sozial normierten ehelichen Kontext aneinander stellen können. Radha ist versorgt von ihrem Ehemann, setzt diese soziale und materielle Sicherheit jedoch für Krishna aufs Spiel. An Krishna hat sie keinerlei eheliche Erwartungen, sondern sehnt sich lediglich nach seiner Erwiderung ihrer Liebe.

Radhas Liebe wird als selbst- und bedingungslose Hingabe an Krishna interpretiert. Ihre Hingabe ist in höherem Maße bedingungslos als die der Sita, denn sie kann in Erfüllung ihrer Hingabe keine soziale Sicherheit erwarten. Es ist eine Liebe, die keinen Eigennutz hat, sondern das höchste Glück im Glück des Geliebten sieht. Sie wird aus freiem Willen gegeben und hat als Ziel nicht das eigene Vergnügen, sondern will allein zu Krishnas Vergnügen, dem Vergnügen des geliebten Objekts, beitragen. Der Begriff für diese Liebe ist prema.

Aus diesen Gründen wird die Liebe Radhas zu Krishna (prema) in der Vaishnava-Tradition als die wahre Liebe betrachtet. Als solche nimmt sie der bhakti[4]-Weg als Modell für die Suche nach Erlösung. In der Theorie werden hinsichtlich des Erlösungsziels zwei Arten von parakiya(nicht die eigene)-Frauen unterschieden: die mit einem anderen Mann verheiratete (parodha) und die unverheiratete (kanyaka). Von diesen beiden wird die Liebe einer verheirateten Frau aufgrund der Tatsache, dass sie durch die aus sozialer Sicht illegitime Liebe mehr zu verlieren hat, als Modell für die Erlösung als besser geeignet betrachtet. Radha ist eine parodha-parakiya Frau und ist damit das ultimative Vorbild für den nach Erlösung suchenden Asketen der bhakti-Tradition. Auf der Suche nach Erlösung muss der bhakta, der in den höchsten Zustand gelangen will, in der Hingabe zu Krishna die weibliche Rolle von Radha einnehmen.[5] Dies gilt für männliche und weibliche bhakta gleichermaßen. Indem die Vaishnava der Radha-Krishna Beziehung den höchsten Stellenwert verleihen, wird der erotischen Liebe und dem sexuellen Impuls des Menschen für die Suche nach Erlösung ein bedeutender Platz zugewiesen. Im Unterschied zu anderen Hindu-Traditionen von Erlösung müssen Körper und Sinne in bhakti nicht verneint werden, sondern hier soll gerade die Fähigkeit zur Leidenschaft und die Sehnsucht nach Vereinigung als Antriebskraft zur Erlösung genutzt werden. Das irdische Geschlecht spielt für die Hingabe an Gott keine Rolle, lediglich die Sehnsucht zählt. Einzige Bedingung ist jedoch, die menschlichen Begierden auf Gott auszurichten, damit sie darin geläutert[6] und in den höchsten Bewusstseinszustand transformiert werden können.

Die Religion hält damit nicht nur einen Freiraum für sozial illegitime Liebe, sondern propagiert diese sogar als höchste Form der selbstlosen Hingabe. Allerdings ist hierzu der Kontextwechsel notwendig. Der Gottesverehrer muss die soziale Welt und ihre Bindungen verlassen und sich ganz der Suche nach Gott bzw. Erlösung widmen. Nur hier im außerweltlichen Lebensbereich der Asketen transzendiert die religiöse Moral die weltlich-soziale Moral. Die sozial illegitime Liebe ist dabei das Tor; die menschliche Emotionalität ist der Einstieg in die Suche nach Erlösung. Durch die vollständige Ausrichtung auf Gott wird die Emotion in eine übersinnliche Erfahrung von Liebe transformiert. Diese höchste Form von Liebe wird mit dem Begriff prema, aber auch als mahabhava bezeichnet. Sie ist der Vaishnava-Philosophie zufolge keine Emotion mehr, sondern ein Geistes- bzw. Bewusstseinszustand, und zwar der für einen Menschen höchstmögliche.

2.2 Der soziale Alltag

Die Illegitimität der außerehelichen Liebe setzt sie im sozialen Alltag der Gefahr aus, sanktioniert zu werden. Hier ist die Gefahr für die Frau größer, aufgrund ihrer besonderen Rolle, die sie bzw. ihre Reinheit für die Reputation der Familie und davon abhängig, für deren soziale Beziehungen spielt. Frauen werden für illegitime Liebesbeziehungen meist härter als Männer bestraft. Soziale Sanktionen hindern die Menschen jedoch nicht daran, außereheliche Liebesbeziehungen in der einen oder anderen Art einzugehen.

Betrachten wir zunächst die voreheliche Liebe. Eine voreheliche Liebe kann durch Heirat legitimiert werden, wenn die Eltern der betroffenen Personen zustimmen.[7] In diesem Fall würde auch vorehelicher sexueller Kontakt, der zumindest den Frauen untersagt ist, keine weiteren Probleme verursachen. Häufig wird eine voreheliche Liebesbeziehung, wenn sie entdeckt wird und von den Eltern nicht gebilligt ist, jedoch beendet, in dem eine Heirat mit einem wünschenswerten Partner arrangiert wird.

In seiner Ethnographie berichtet Steven M. Parish[8] beispielsweise von einem Mann, der seinem Sohn das Einverständnis gab, eine Frau aus einer niedrigeren Kaste aus Liebe zu heiraten. Seit der Heirat wird die Familie von den Nachbarn gemieden. Sie ist damit aus dem sozialen Miteinander ihrer weiteren Umgebung weitestgehend ausgeschlossen. Aus Liebe zu seinem Sohn und aus Zuneigung zu dem Mädchen entschied sich der Vater, die sozialen Konsequenzen zu tragen. Trotz dieser Unannehmlichkeiten bereut er seine Entscheidung nicht. In diesem Fall hat der Mann seinen Gefühlen zu seinem Sohn und dessen Frau den Vorrang vor seiner sozialen Verpflichtung, den Sohn mit einer Frau aus der eigenen Kaste zu verheiraten, gegeben.

Durch die Ehe legitimierte Liebesbeziehungen zwischen jungen Menschen scheinen eher eine Ausnahme als die Regel zu sein. Von 49 in Benares (Uttar Pradesh) interviewten Männern[9] berichteten lediglich zwei Männer von vorehelichen Liebesbeziehungen, die durch Heirat legitimiert wurden. Beide waren bestrebt, ihre Liebe durch Handlungsstrategien, wie das Einholen der elterlichen Zustimmung, eine an den Regeln orientierte Heirat und die darauffolgende Einbettung der Ehe in die großfamiliären Strukturen, als arrangierte Heirat zu legitimieren. Während die eine Heirat zwischen zwei Personen aus der gleichen Brahman-Subkaste stattfand, ist hinsichtlich der Legitimierung des zweiten Falls bemerkenswert, dass der Mann einer Vaishya-Kaste und die Frau einer Brahman-Kaste angehörte. Dieser Statusunterschied, in dem die Frau den höheren Status hatte, verzögerte die Heirat, aufgrund der erhöhten Schwierigkeit, diese an sich regelwidrige Heirat zu rechtfertigen, um einige Jahre. Beide Männer bekamen schließlich die Zustimmung ihrer Eltern, sowie die der Eltern ihrer Geliebten und haben die Heirat mit dem klassischen Ritual vollzogen. Dadurch konnte die "Liebesheirat" in beiden Fällen als arrangierte Heirat legitimiert werden und das soziale Netzwerk der betroffenen Familien erhalten bleiben.

Die genannten Beispiele stammen aus urbanen Kontexten. Anhand der von mir gesichteten Ethnographien[10] lassen sich keine repräsentativen Aussagen zur kasten- bzw. schichtspezifischen Verbreitung vorehelicher Liebesbeziehungen treffen. Deutlich wird in allen Beschreibungen, dass die Personen in den meisten Fällen bestrebt sind, ihre Liebe in den konventionellen Rahmen der familiären und weiteren sozialen Beziehungen einzupassen. Die von Derné zitierten Männer insistieren, keine vorehelichen sexuellen Kontakte gehabt zu haben. Sie berichten außerdem, dass sie und ihre Ehefrauen bestrebt sind, ihr eheliches Leben nach der Heirat an moralischen Werten auszurichten, die allgemein das eheliche Leben regulieren. Insofern steht die voreheliche Liebe zwischen den Personen nicht im Widerspruch zu den Regeln und Normen, sondern wird in diese im nachhinein eingepasst. Demzufolge wird die voreheliche Liebesbeziehung nicht als ausschließliche Beziehung zwischen zwei Individuen verstanden, sondern in Bezug zu den übrigen Familienmitgliedern und der gesellschaftlichen Normativität gesetzt. Die moralischen Werte, die der ehelichen Liebe zu Grunde liegen, werden auf die voreheliche Liebe übertragen. Liebespaare denken und handeln nicht als geschlossene Einheit, sondern als in ein soziales Netzwerk eingebundene Personen und streben eine gesellschaftlich anerkannte Heirat an. Die vorehelichen Liebesbeziehungen sind insofern von den gleichen Erwartungen, Rollenvorstellungen und Vorstellungen über späteres familiäres Zusammenleben getragen, wie sie Hindus an und für die eheliche Liebe haben. Folglich stehen Liebesheiraten und die ihnen vorausgehende voreheliche Liebe, soweit an den genannten Beispielen erkennbar, nicht in Widerspruch zu den moralischen Werten, die die eheliche Liebe strukturieren.

Größere Schwierigkeiten der Legitimation bereitet eine außereheliche Liebesbeziehung der zweiten Art, also zwischen zwei Menschen von denen entweder einer oder beide verheiratet sind. Eine solche Liebesbeziehung, vorausgesetzt sie geht mit sexuellen Begegnungen einher, kann aufgrund ihrer sozialen Illegitimität, wenn sie entdeckt wird, härtere soziale Konsequenzen für die Personen und deren Familien haben, muss es aber nicht. Sanktionen reichen von Respektverlust, sozialer Verachtung bis hin zum Ausschluss aus der Familie, was gleichzeitig Ausschluss aus allen bestehenden sozialen Beziehungen bedeutet. Da eine die Regeln der Ehe verletzende Liebesbeziehung der Reputation der gesamten Familie schadet, ist der Ausschluss einer auf diese Art und Weise handelnden Person die wirksamste Möglichkeit der Familie ihre soziale Achtung wieder herzustellen. Die Handlungsalternativen sind auch in dieser Hinsicht vielfältig. Leider geben die Ethnographien kaum Beispiele für diese Form der Normverletzung.

Lediglich ein Beispiel für eine solche Liebesbeziehung wird von Manisha Roy[11] beschrieben. In diesem Fall einer scheinbar modernen Adaption des Radha-Mythos ging eine Frau eine sexuelle Beziehung mit dem jüngeren Bruder ihres Ehemannes ein, der zum Zeitpunkt der Liebschaft unverheiratet war. Ort der Begegnung war die Teeplantage, auf der die Frau mit ihrem Ehemann und dessen Mutter lebte. Der eher verschlossene, hart arbeitende Ehemann nahm sich kaum Zeit für seine Frau. Sein jüngerer Bruder, der aus England vom Studium zurück kam, war aufgeschlossen und fröhlich. Weil er auf der Plantage wenig zu tun hatte, verbrachte er viel Zeit mit der sich einsam fühlenden Frau seines Bruders. Beide fühlten sich stark zueinander hingezogen. Als ihr Ehemann und dessen Mutter in Kalkutta waren, kam es zur sexuellen Begegnung zwischen beiden. Die Frau berichtet, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben entdeckte, dass sexueller Verkehr glücklich machen kann. Sie bemerkte, dass sie nicht ihren Ehemann liebte (was sie bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte), sondern dessen Bruder. Sie beschreibt, dass ihr Liebhaber etwas in ihr anregte, das zwischen ihrem Ehemann und ihr nie bestanden hatte. Ihr Liebhaber behandelte sie als Gleichberechtigte und wollte auch von ihr als solcher behandelt werden. Er ließ nicht zu, dass sie zu ihm wie zu einem Ehemann aufschaute. Dies beeindruckte sie. Sie beschreibt diese Liebesaffäre als die glücklichste Zeit ihres Lebens. Gleichzeitig hatte sie Schuldgefühle und wollte die Beziehung beenden. Doch die Anziehung zwischen ihnen war so stark, dass sie die Affäre laufen ließ.

Die Motivation und die aufrechterhaltende Kraft dieser Liebesbeziehung war die individuelle Anziehung, die beide Personen aufgrund ihrer persönlichen Einzigartigkeiten aufeinander ausübten. Der Liebhaber hatte aus England die Idee von "gleichberechtigter" Partnerschaft mitgebracht und übertrug diese Idee auf seine Liebesaffäre. Die Frau hingegen betrachtet ihren Liebhaber als ihren eigentlichen "Ehemann". Insofern hat sie ihre Vorstellungen von ehelicher Liebe, auf ihre Liebe zu dem Bruder des legitimen Ehemannes übertragen.

Als ihr legitimer Ehemann Verdacht schöpfte, reagierte er mit Zurückweisung seiner Frau. Auf die Beziehung zu seinem jüngeren Bruder hatte dieser Verdacht nach Aussagen der Frau keine Auswirkung. Lediglich die Beziehungen der Frau zu den beiden Männern distanzierten sich. Schließlich wurde der Bruder verheiratet und zog mit seiner Ehefrau in eine entfernte Stadt. Zurück blieben Schuldgefühle bei der Frau. Die Ehe blieb bestehen, doch die Beziehung zwischen den Ehepartnern blieb weiterhin distanziert. Der Ehemann hatte den Ehebruch seiner Frau offenbar hingenommen und reagierte lediglich, indem er sich noch tiefer in seine Arbeit vergrub und damit die Distanz zu ihr vergrößerte. Roy zufolge hat er dies aus Liebe zu seinem Bruder und Pflichtbewusstsein gegenüber der Familie getan.

Einige Zeit danach gebar die Frau einen Sohn und stürzte sich in ihre Rolle als Mutter. Die Verwandtschaft reagierte mit Klatsch und Tratsch über die Vaterschaft des Kindes, nicht aber mit dem Ausschluss der Frau aus der Familie. Der unbewiesene Regelbruch wurde offenbar von allen Parteien auf die eine oder andere Weise hingenommen.

Dieses Beispiel verdeutlicht eine von vielen Handlungsalternativen als möglichen Umgang mit einem Regelbruch. In diesem Fall ist die Familie nicht auseinander gebrochen, sondern der Konflikt wurde gelöst, in dem der Status quo mit der Heirat des Bruders des Ehemannes und anschließendem Wohnortwechsel wieder hergestellt wurde. Die eheliche Beziehung wurde fortgeführt. Ein Kind wurde geboren, womit zumindest eine Funktion der Ehe bestätigt wurde. Jedoch kann der Klatsch der Verwandtschaft als Ausdruck einer verdeckten Distanzierung der sozialen Gruppe von dem Ehepaar gewertet werden. Gleichermaßen ist die Distanzierung des Ehemannes von seiner Frau Ausdruck einer Sanktion, die sein Ansehen in der sozialen Gruppe wahrscheinlich zumindest in gewissem Maße gesichert hat.

In den von mir gesichteten Ethnographien ist dies das einzige ethnographisch dokumentierte Beispiel für eine außereheliche Liebesbeziehung, in der zumindest eine der Personen mit einer anderen Person verheiratet ist. In diesem Fall ist es die Frau, die den Ehebruch begeht. Insofern ist dieses Beispiel Ausdruck genau der Situation, die im Gitagovinda anhand der Figuren Radha und Krishna exemplifiziert ist. Aufgrund des Einflusses der Mythologie auf die Vorstellungen von Liebe innerhalb des ehelichen Kontextes wäre anzunehmen, dass die Vorstellungen von Liebe außerhalb der Ehe in ähnlicher Weise durch die in der Mythologie vermittelten Werte hinsichtlich der außerehelichen Liebesbeziehungen beeinflusst sind. In der ethnographischen Darstellung der Aussagen der Frau, sowie deren Interpretation, gibt es jedoch weder einen Hinweis auf eine Identifikation der Personen mit einer der Figuren, noch wird ein Vergleich zwischen den sozialen Handlungen der Personen und der Geschichte über die Liebe Radhas zu Krishna deutlich bzw. von der Ethnographin gezogen. Keinesfalls wird die Art der Leidenschaft erwähnt, die die Vaishnava-Philosophen prema zuschreiben, obwohl die Tatsache, dass die Frau trotz ihrer selbstbenannten Schuldgefühle die Liebesbeziehung nicht abbrach, auf Leidenschaft schließen ließe. Doch sie selbst beschreibt ihre Liebe weder als leidenschaftlich, noch erwähnt sie Sehnsucht nach ihrer räumlichen Trennung. Im Gegenteil wird aus der zitierten Aussage der Frau, nach der sie ihren Geliebten als ihren eigentlichen "Ehemann" betrachtete, eher deutlich, dass sie versucht, ihre Liebe zum Bruder ihres Ehemannes in der Konzeption der ehelichen Beziehung zu verstehen. Insofern werden von ihr die gleichen moralischen Werte und Verstehensmuster gebraucht, die für die legitime Liebe in der Ehe gelten. Lediglich die von der Frau erwähnte Forderung des Mannes, ihn als gleichberechtigten Partner zu betrachten, deutet auf einen ihren Rollenvorstellungen der Ehe widersprechenden Aspekt. Vom Mann könnten demzufolge andere Verstehensmuster gebraucht worden sein, die durch seinen Aufenthalt in England und auch durch die in der Krishna-Radha-Geschichte vermittelten Werte beeinflusst sein könnten. Von ihm sind jedoch leider keine Aussagen dokumentiert und die Aussagen der Frau deuten eher darauf hin, dass sie ihre außereheliche Liebe nicht anhand von Vorstellungen versteht, die denen der ehelichen Liebe grundlegend widersprechen.

Die Tatsache, dass in den Ethnographien außereheliche Liebesbeziehungen so selten erwähnt werden, kann verschiedene Ursachen haben. Zunächst könnte der Schluss gezogen werden, dass das Phänomen außerordentlich selten vorkommt. Oder es liegt daran, dass die Ethnographien mehrheitlich auf die Darstellung und Analyse der norm- und regelorientierten Handlungen der Menschen fokussieren. Oder sind es die Menschen, die keine Auskunft über solche die Moral konfrontierenden außerehelichen Liebesbeziehungen und den damit einhergehenden Wünschen, Sehnsüchten und Vorstellungen geben? Es lässt sich hier nicht beantworten. Deutlich wird jedenfalls, dass keines der Beispiele auf Vorstellungen verweist, die in der Krishna-Radha-Liebe beschrieben werden. Die wenigen Beispiele von ethnographisch dokumentierten außerehelichen Liebesbeziehungen lassen nicht auf eine Orientierung an den durch die Konzeption von prema vermittelten Werten schließen, obwohl sich der Inhalt des Gitagovinda auf den ersten Blick hierfür anbietet.

"Liebesheirat" und Ehebruch sind auch ein die Bollywoodfilme aus Bombay durchziehendes Thema. In den Spielfilmen geht es jedoch weniger um die soziale Legitimierung dieser Form von nicht-arrangierter Heirat, sondern vielmehr zeigen die Filme, welche negativen sozialen Konsequenzen solche Liebesbeziehungen für alle Beteiligten haben können, wenn sie der gesellschaftlichen Norm und der damit etablierten Moral zuwider laufen. Insofern bestätigen die in ganz Indien beliebten Hindifilme in den meisten Fällen die sozial legitime Liebe und zumindest den Zwang zur Legitimierung von Liebesbeziehungen.

Doch die Filme sind die eine Seite, die andere ist die der Liebesbeziehungen zwischen Mitarbeitern in der Filmindustrie. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die in ihren filmischen Rollen die traditionellen moralischen Werte verkörpern, haben in ihrem sozialen Leben in vielen Fällen außereheliche Liebesaffären, von denen die Filmpresse und andere Medien anhaltend berichten. In ihrem Buch über Frauenleben in Indien berichtet Elisabeth Bumiller[12] über die Schauspielerin Smita Patil, dass sie ein Baby von dem Schauspieler Raj Babbar erwartete, der zu dieser Zeit mit einer anderen Frau verheiratet war. Dies war kein Einzelfall. Auch andere Schauspieler teilten ihre Zeit zwischen zwei Frauen. Es wird dagegen von keiner Schauspielerin berichtet, dass sie zwei Männer hatte. Dem Bericht zufolge sind viele Schauspieler mit einer Frau verheiratet, die ihnen im Sinne der traditionellen Ehefrau den Haushalt führt und haben nebenbei eine Geliebte, mit der sie die Schauspielkunst und anderes teilen. Die Frauen wissen in der Regel übereinander Bescheid und nicht zuletzt sorgt ja die Presse für die Veröffentlichung dieser Doppelbeziehungen der Männer. Offenbar sind es hier die Frauen, die für ihre Ehe oder ihre Liebe zu einem Schauspieler in Kauf nehmen, diesen mit einer weiteren Frau zu teilen, während die Männer ganz selbstverständlich zwei Frauen "lieben". Eine Rechtfertigung dafür bietet ihnen die Hindu-Mythologie, oder wie es der Schauspieler Amitabh Bachchan ausdrückte:

"Heimliche Liebesbeziehungen hat es schon zu allen Zeiten gegeben. Die meisten unserer Götter hatten zwei Frauen." (Bumiller: 249)

In dieser Aussage wird zwar nicht ausdrücklich auf die Krishna-Geschichte Bezug genommen, dennoch wird deutlich, dass diese und andere Geschichten von den Menschen durchaus in Bezug zu ihren Handlungen gebracht werden.

Für die meisten Inder ist das Alltagsleben der Filmszene in Bombay immerhin so weit von ihrem eigenen sozialen Alltag entfernt, dass die Schauspieler und Schauspielerinnen wie Götter wirken. Tatsächlich werden sie teilweise wie solche verehrt. Der Grund dafür liegt aber sicherlich eher darin, dass die Schauspieler in ihren Rollen die Ideale aus der Mythologie verkörpern. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Schauspieler selbst hinsichtlich ihres Liebeslebens mit Göttern vergleichen. Dieser Vergleich ist jedoch keineswegs realitätsfern, auch wenn dies auf den ersten Blick so scheint. Die Schauspieler und Schauspielerinnen setzen sich in ihren Handlungen wissentlich über die Regeln der ehelichen Liebe hinweg und rechtfertigen diese Handlungen, indem sie auf die Mythologie verweisen. Damit werden zwei Dinge ausgedrückt: erstens wird auf eine Historie verwiesen, in der es Ehebruch immer gegeben hat und zweitens wird darauf verwiesen, dass Ehebruch unter Göttern legitim ist. Warum sollte er dann nicht auch für die Menschen legitim sein? Schauspieler, die die mythologischen Ideale in ihren Rollen verkörpern, legitimieren ihre Handlungen damit im Grunde genommen vor sich und der Öffentlichkeit durch das, was sie selbst darstellen. Damit nutzen sie ihre Sonderstellung in der Gesellschaft geschickt als Legitimierung für Handlungen und Emotionen, die im sozialen Alltag moralisch nicht gebilligt sind.

Eine andere Rechtfertigungsstrategie wird von dem bekannten Regisseur Mahesh Bhatt berichtet. Er soll vor seiner zweiten Hochzeit zum Islam konvertiert sein, um die Legitimation für eine zweite Ehefrau, die zu der Zeit seine Geliebte war, zu erreichen, ohne sich von der ersten scheiden lassen zu müssen. Er wollte nach eigenen Angaben beide Frauen in seinem Leben behalten. Wie die Frauen darüber dachten wird leider nicht beschrieben. Es scheint jedoch, als würden die Frauen das "doppelte Liebesleben" ihrer Ehemänner bzw. Liebhaber akzeptieren.

Ein anderes Phänomen spiegelt das Wertedenken der Schauspielerinnen wider. Die Schauspielerinnen betrachten ihre Liebhaber nicht als solche, sondern sehen in ihnen ihre Ehemänner. Dies wird daran deutlich, dass viele Schauspielerinnen, um uneheliche Kinder von ihren verheirateten Liebhabern zumindest vor ihrem Gewissen zu legitimieren, in Nachahmung der Schauspielerin Hema Malini, beschlossen, sie seien mit ihrem Liebhaber in den Augen Gottes "verheiratet". Nun ist den Schauspielerinnen natürlich bewusst, dass dies nicht legal ist. Vor der Gesellschaft haben solche "Legitimierungen" keinen Bestand. Das Bedürfnis der Schauspielerinnen, ihre Kinder und damit auch ihre Liebe zu Männern, mit denen sie dem Gesetz nach nicht verheiratet sind, zu legitimieren, bestätigt ein weiteres Mal die Normen von Liebe in der Ehe. Es zeigt gleichzeitig, dass sich das Denken auch derer, die aufgrund ihrer ökonomischen Unabhängigkeit und ihrer Elitestellung in der Gesellschaft diese Normen und die damit verbundene Hierarchie der Geschlechter durchbrechen und neue Werte situieren könnten, an den kulturellen Konzeptionen von Ehe und Familie ausrichtet. Auch in der High-Society von Bombay hat die Frau mehr zu verlieren als der Mann und bleibt ihm ihrer gesellschaftlichen Stellung nach untergeordnet. Die Tatsache, dass so viele Schauspielerinnen Liebesbeziehungen zu verheirateten Männern haben, zeigt aber auch, dass sie zumindest was ihre Leben angeht, den traditionellen Regeln und Normen widersprechen wollen.

Inwieweit Männer an den Vorstellungen von geschlechtsspezifischen Rollen festhalten, wird im Fall der Schauspielerin Dimple Kapadia deutlich. Von ihr wird berichtet, dass sie mit fünfzehn Jahren den damals bekanntesten männlichen Hauptdarsteller Rajesh Khanna heiratete. Nach der Heirat verlangte dieser von ihr, die Karriere als Schauspielerin aufzugeben und Hausfrau und Mutter zu werden. Sie fügte sich in diese Rolle. Insofern bestätigt selbst diese frei gewählte Ehe die Einbettung der Liebe in die konventionellen Vorstellungen von Ehe und Familie. Zehn Jahre später, nachdem sie zwei Kinder von ihm bekommen hatte, verließ sie ihn jedoch und kehrte zurück zum Film. Als Bumiller mit ihr sprach, war sie mit einem verheirateten Schauspieler liiert.

Was die Häufigkeit von außerehelichen Liebesbeziehungen betrifft, ist die Bollywoodszene sicherlich wenig repräsentativ für die Gesamtgesellschaft. Festzustellen bleibt, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre außerehelichen Liebesbeziehungen anhand der moralischen Werte und Konventionen der ehelichen Liebe interpretieren.

Demnach werden in allen genannten Beispielen für außereheliche Liebesbeziehungen solche Verstehensmuster gebraucht, die auch den ehelichen Liebesbeziehungen zu Grunden liegen. Ursache für diesen Eindruck können natürlich auch die ethnographischen Darstellungsweisen sein, durch die Widersprüche zwischen den Vorstellungen von ehelicher und außerehelicher Liebe möglicherweise nicht zum Ausdruck kommen. Desweiteren sagt dieses Ergebnis nichts über die Phantasien der Menschen hinsichtlich der Liebe aus. Beispielsweise erwähnt ein von Derné interviewter Mann, die wahre Heirat sei die Heirat aus Liebe. Er sagt dies, obwohl er seine eigene arrangierte Heirat befürwortet. Doch gleichzeitig behauptet er, in seiner Ehe niemals im wahren Sinne glücklich zu werden, weil diese eben arrangiert wurde. Was aber stellt er sich unter Glück vor? Ist es vielleicht die Leidenschaft im Sinne derer Radhas zu Krishna? Aussagen wie diese und die Tatsache, dass Liebe nicht nur im Zusammenhang der Ehe verstanden wird, lassen zumindest schlussfolgern, dass Menschen über Leidenschaft und Sehnsucht als Phänomene von Liebe phantasieren und Liebe nicht nur als die komplementäre Erfüllung der geschlechtsspezifischen Rollen in der Ehe verstehen. In diesem Sinne sind Vorstellungen von Liebe jenseits der Ehe wesentliche Aspekte der Emotionen von Liebe im sozialen Alltag.

Anmerkungen

[1] Der Artikel basiert auf meiner ausführlichen Analyse der Hindu-Liebe, veröffentlicht unter dem Titel: Kultur der Liebe in Indien. Leidenschaft und Hingabe in Hindu-Mythologie und Gegenwart. LIT-Verlag. 2003.

[2] Vgl. Dumont 1980 [1966] Homo Hierarchicus: the caste system and its implications. Chicago. S. 109; 114

[3] Siehe De, Sushil Kumar (1961) Early History of the Vaishnava Faith and Movement in Bengal. Calcutta; Dimock, Jr., Edward C. (1966) The Place of the Hidden Moon: Erotic Mysticism in the Vaishnava-Sahajiya Cult of Bengal. Chicago.

[4] Bhakti bezeichnet allgemein die selbstlose emotionale Hingabe an Gott; die Verehrung Gottes durch hingebungsvollen Dienst an Gott. Erlösung bzw. die Überwindung der Trennung zwischen individuellem Selbst (atman) und absolutem Selbst (brahman) wird auf diesem Weg durch das Aufeinanderzugehen von Mensch und Gott in der Liebe konzipiert. Denn dem Verehrer Gottes (bhakta) wird in seiner Liebe zu Gott und seinem anhaltenden devotionalen Dienst an Gott umgekehrt die Gnade Gottes zuteil, so dass bhakti nicht nur die Liebe zu Gott, sondern auch die Liebe von Gott an den Diener Gottes umfasst. Durch diese gegenseitige "Liebesbeziehung" ist bhakti ein Erlösungsweg, der allen Menschen unabhängig von Kastenzugehörigkeit, Wohlstand und Wissen zugänglich ist, da die hierfür erforderliche Hingabe an Gott, eine Fähigkeit ist, die allen Menschen zu eigen ist. (Siehe Küng, Hans und Heinrich v. Stietencron (1995) Christentum und Weltreligionen – Hinduismus. München)

[5] Diese Art von Brautmystik ist einzigartig in der Hindu-Philosophie. Und sicherlich ist es kein Zufall, dass die Entwicklung der Vaishnava-Philosophie historisch in dem Zeitraum entstand, als auch sufistische Traditionen mit ähnlichen Ideen auf dem indischen Subkontinent Fuß fassten. (siehe auch Faruqui, I.H.A. 1990 [1984] Sufismus und Bhakti: Maulana Rumi und Sri Ramakrishna. Gladenbach.)

[6] Dasgupta, S.N. 1998 [1927]. Indische Mystik. Adyar. Satteldorf. S. 134.

[7] Erzählungen solcher Liebesgeschichten und deren moralische Bewertung finden große Verbreitung durch Medien, wie die Hindifilme aus Bollywood, Asiens größter Filmindustrie in Bombay.

[8] Steven M. Parish (1994) Moral Knowing in a Hindu Sacred City. An Exploration of Mind, Emotion, and Self. New York. S. 68f

[9] Veröffentlicht in der Ethnographie von Steve Derné (1995) Culture in Action. Family Life, Emotion, and Male Dominance in Banaras, India. New York.

[10] Lynn Bennett (1983) Dangerous Wives and Sacred Sisters: Social and Symbolic Roles of High-Caste Women in Nepal. New York; Steve Derné (1995) a.a.O; Lindsey Harlan (1992) Religion and Rajput Women. The Ethnics of Protection in Contemporary Narratives. Berkeley; Steven M. Parish (1994) a.a.O.; Gloria G. Raheja and A. G. Gold (1994) Listen to the Heron’s words: Reimaging Gender and Kinship in North India. Berkeley; Manisha Roy (1992 [1972]) Bengali Women. Chicago; Margaret Trawick (1990) Notes on Love in a Tamil Family. Berkeley.

[11] Manisha Roy (1992 [1972]) a.a.O.

[12] Elisabeth Bumiller (1992) Hundert Söhne sollst du haben ...: Frauenleben in Indien. Gutenberg.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Queer South Asia .

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