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15. Juli 2002. Interviews: Politik & Recht - Afghanistan Bedingungsloser "Antiterrorkampf"

Ahmed Rashid, Autor des Weltbestsellers "Die Taliban" wurde 1948 in Pakistan geboren. Nach Studien in Cambridge begann er ab Ende der 70er Jahre für britische Zeitungen, BBC und die "Far Eastern Economy Review" über Afghanistan und Pakistan zu schreiben. Der in Lahore lebende Publizist gilt als einer der besten Kenner Zentralasiens. Am 26. Juli 2002 sprach er auf Einladung der Stiftung Schloss Neuhardenberg in der Reihe "Welterfahrungen" über Afghanistan, Mittelasien und die Rolle des Westens.

In der unlängst beendeten Großen Ratsversammlung Loya Jirga hat ein großer Teil der Delegierten die Warlords kritisiert – welche Rolle spielen die Kriegsherren derzeit in Afghanistan?
Die Situation ist kompliziert. Zum einen gibt es diejenigen Warlords, die in den 90er Jahren von den Taliban geschlagen wurden und das Land verlassen mussten. Zu denen gehören Abdurrashid Dostum aus Mazar-e Scharif und Ismail Khan aus Herat. Diese Leute sind zurückgekommen und haben ihre Positionen neu aufgebaut. Und das Fatale ist, dass sie immer stärker werden. Zum anderen gibt es jene Warlords, die von den US-Amerikanern geschaffen wurden: Zu Beginn des Afghanistan-Krieges im Oktober hatten die USA begonnen, Paschtunen – oft sind es einfach nur Kriminelle – mit Waffen auszurüsten. Und hier tut sich ein großer Widerspruch auf. Einerseits befürworten die USA den Aufbau einer neuen afghanischen Armee, anderseits werden diese Hilfstruppen noch immer finanziell, militärisch und logistisch unterstützt. Doch die USA wollen diesen Widerspruch nicht sehen. Zwar gibt es in Washington inzwischen eine Debatte über einen Paradigmenwechsel in der Afghanistanpolitik, doch das Verteidigungsministerium blockiert ein neues Herangehen. Für Donald Rumsfeld & Co. steht noch immer der bedingungslose "Antiterrorkampf" im Mittelpunkt.
Sie haben in Ihrem Taliban-Buch über den in Afghanistan geborenen USA-Diplomaten Zalmay Khalilzad geschrieben, der als Berater von USA-Ölfirmen in Zentralasien tätig war und nach dem 11. September von Präsident Bush zum USA-Sonderbeauftragten für Afghanistan ernannt wurde. Dieser Tage hieß es in einer deutschen Zeitung, Khalilzad führe sich in Kabul wie ein britischer Vizekönig zu Kolonialzeiten auf. Ihr Kommentar?
Tatsächlich haben die USA in Gestalt von Sonderbotschafter Khalilzad während der Loya Jirga ihre Politik in einer derart arroganten Weise durchzusetzen versucht, dass viele Afghanen schockiert darüber waren. Die Politik wurde in den Hinterzimmern gemacht und keine einzige Entscheidung wurde in der Öffentlichkeit getroffen. Die Briten haben während ihrer Herrschaft in Südasien meist eine äußerst diskrete Politik betrieben. Deshalb denke ich, dass der Vergleich nicht ganz korrekt ist. Die US-Amerikaner müssen noch einiges lernen. Nicht zuletzt in Afghanistan, wo sie es mit einem sehr stolzen Volk zu tun haben.
Wie agieren die Europäer?
Sowohl die UNO als auch die Europäer verstehen das Afghanistan-Problem besser. Und sie haben in diesem Zusammenhang bereits Druck auf die USA ausgeübt. Vor allem Großbritannien und Deutschland investieren viel Geld in Afghanistan, das sie nicht in einem Fass ohne Boden verschwinden sehen wollen. Die USA können sich nicht ewig hinter ihrem "Antiterrorfeldzug" verstecken und müssen eine breitere Strategie für Afghanistan vorlegen. Mit ihrer bisherigen Politik kommen die USA sehr bald an einen kritischen Punkt.
Sie sprechen davon, dass in Bonn der Grundstein für eine Partnerschaft zwischen dem Westen und Afghanistan gelegt wurde. Hat der Westen seinen Part erfüllt?
Nein. Sowohl in der Frage des Wiederaufbaus als auch der Ausdehnung des Mandats der Internationalen Schutztruppe für Afghanistan (ISAF) auf Gebiete außerhalb Kabuls hat sich kaum etwas bewegt. Anfangs haben die USA die Ausweitung des Mandats blockiert. Sie wollten nicht, dass ihnen bei ihrer Jagd auf Bin Laden irgendwelche Friedenstruppen im Wege stehen. Und beim Wiederaufbau muss man der ganzen internationalen Gemeinschaft einen Vorwurf machen. Bis heute sind nur sehr wenig Gelder geflossen. Der Westen hat viele Afghanen enttäuscht.
Wo sehen Sie derzeit die wichtigsten Konfliktpunkte innerhalb Afghanistans?
Die Paschtunen fühlen sich vernachlässigt, sie waren in der Loya Jirga nicht adäquat vertreten und sind es auch nicht in der gegenwärtigen Übergangsregierung. Die Paschtunen sind auch sehr enttäuscht, dass dem Ex-König Zahir Schah – er ist Paschtune – keine politische Rolle gegebnen wurde. Darüber hinaus sind sie der Auffassung, dass die USA die Tadschiken, die führenden Kräfte in der Nordallianz, unterstützen, während sie die paschtunischen Gebiete im Süden und Osten des Landes in ihrem anhaltenden Feldzug gegen die Taliban und Al Qaida weiter bombardieren. Viele Afghanen haben auch erwartet, dass die Dominanz der Tadschiken aus dem Panjshir-Tal gebrochen wird. Das ist nicht geschehen. Vor allem Verteidigungsminister Mohammed Fahim spielt eine gefährliche Rolle. Er wendet sich gegen den Aufbau einer afghanischen Armee mit dem Argument, dass er bereits eine Armee habe – seine eigene –, die man einfach vergrößern solle. 90 Prozent der Generäle gehörten der Nordallianz an. Fahims Armee ist also schlicht und einfach die Armee eines Warlords.
In Afghanistan sind die Klüfte zwischen den verschiedenen politischen Kräften, die zu Zeiten des Königs, der Demokratischen Volkspartei unter Najibullah, der Mujaheddin und der Taliban Macht ausübten, sehr tief. Gibt es in Kabul eine Versöhnungsdebatte wie in Südafrika?
Präsident Karzai hat Südafrika durchaus als ein Modell für die Aufarbeitung der Vergangenheit bezeichnet. Es ist auch eine Menschenrechtskommission eingerichtet worden, die sich mit aktuellen Menschenrechtsverletzungen befasst und versucht, einen Prozess der Versöhnung zu initiieren. Aber man muss sehen, dass die Situation Afghanistans eine völlig andere als die Südafrikas ist. In diesem Zusammenhang sehe ich aber auch sehr positive Dinge, wie den "back-to-school-process", der im ganzen Land wieder drei Millionen Kinder in die Schulen gebracht hat. Auch im Süden, im Kernland der Taliban, schicken die Paschtunen ihre Töchter wieder in die Schulen. Und das hat natürlich auch eine sehr hohen Symbolkraft, wenn man die Frage nach nationaler Identität und Versöhnung stellt. Dabei handelt es sich um das größte Alphabetisierungsprogramm in der muslimischen Welt überhaupt. In meiner Heimat Pakistan hat es so etwas nie gegeben, wir haben eine Analphabetenrate von 60 Prozent.
Wie beurteilen Sie die noch vorhandenen terroristischen Kapazitäten der Al Qaida in Afghanistan?
Ich glaube, in Afghanistan und Zentralasien ist Al Qaida als militärische Kraft zerstört. Gleichwohl ist sie als terroristische Gruppe nach wie vor fähig, weltweit Anschläge zu verüben. Ich gehe aber davon aus, dass es heute kein wirkliches Hauptquartier mehr gibt. Allerdings spielt Pakistan in meinen Augen eine Sonderrolle. Viele Al-Qaida-Leute sind auf Grund ihrer engen Verbindungen zu pakistanischen Gruppen in das Nachbarland gegangen. Wenn es also so etwas wie ein Zentrum gibt, dann ist das Pakistan. Ich gehe auch davon aus, dass sowohl Osama bin Laden als auch Taliban-Chef Mullah Mohammed Omar noch am Leben sind.
Warum nehmen Sie das an?
Aus dem einfachen Grund, weil es keinen Beweis für ihren Tod gibt. Wenn sie getötet worden wären, hätte die Öffentlichkeit mit Sicherheit davon erfahren. Aus meiner langjährigen Erfahrung mit islamistischen Gruppen – auch in Kaschmir und Tschetschenien – weiß ich, dass es zu ihrer Strategie und Mystik gehört, sich "tot zu stellen", um dann sozusagen "auferstehen" zu können. Darüber hinaus ist es natürlich auch Teil des Guerilla-Krieges: Wenn der Feind hinter einem her ist, liegt es nahe, erstmal von der Bildfläche zu verschwinden.
Unlängst machte in Deutschland der Streifen »Massaker in Mazar« des irischen Dokumentarfilmers Jamie Doran Schlagzeilen. Darin berichten zahlreiche Zeugen, Ende November/Anfang Dezember vorigen Jahres seien etwa 3000 gefangene Taliban in Nordafghanistan unter Beihilfe von USA-Soldaten ermordet und in der Wüste verscharrt worden. Ein Thema in Kabul?
Ich weiß von dieser Sache, weiß allerdings nicht, ob USA-Soldaten daran beteiligt waren. Es ist aber bekannt, dass damals USA-Berater und US-Special Forces an den militärischen Aktionen in Nordafghanistan teilgenommen haben. Jedenfalls hat Karzai eine Untersuchungskommission zusammengestellt und nach Mazar-e Scharif geschickt.
Die USA planen einen großen Militärschlag gegen Irak. Was wären die Folgen für die arabische Welt und Afghanistan?
Ein Angriff auf Irak würde eine enorme Kluft zwischen den USA und Europa schaffen und eine enorm destabilisierende Wirkung in der arabischen Welt haben. Auch im Hinblick auf Afghanistan wären die Auswirkungen sehr negativ. Die Aufmerksamkeit für den Wiederaufbau würde schwinden, und es gäbe eine Neubelebung der Al Qaida in Afghanistan und Pakistan.
Pakistan spielte eine wichtige Rolle im Krieg gegen die Taliban – wie beurteilen Sie die dortige Lage?
Die inneren Verwerfungen in Pakistan sind ein großes Problem. Wenn es nach den für Oktober angesetzten Wahlen keine wirklich demokratisch legitimierte Regierung gibt, besteht die Gefahr, dass Pakistan früher oder später aus der Antiterrorkoalition ausbricht. Ohne eine repräsentative Regierung können die islamistischen Gruppen ihre Einfluss ausbauen und das Land destabilisieren. Auf der anderen Seite unterstützt die Armee nach wie vor verschiedene islamistische Gruppen. Die selben Gruppen, die in Afghanistan kämpften, sind in Kaschmir aktiv. Doch die pakistanische Armee wird solange nicht in der Lage sein, mit diesen Gruppen fertig zu werden, bis es positive Zeichen von indischer Seite gibt. Ich denke, Pakistan hat verschieden Schritte unternommen, das Einsickern von Militanten in den indischen Teil Kaschmirs zu verhindern. Nun sind die Inder am Zuge und ich denke, USA-Außenminister Colin Powell wird bei seinem derzeitigen Besuch in Delhi in diese Richtung argumentieren.
Ihr Taliban-Buch ist unterdessen in 25 Sprachen übersetzt und in 800.000 Exemplaren verkauft worden...
Ja, mit den Tantiemen habe ich einen Fonds für die Entwicklung afghanischer Medien gegründet, von 170.000 US-Dollar sind bereits 120.000 in sieben Zeitschriften geflossen. Darunter ist das Kindermagazin Sada-I-Koda (Stimme der Kinder), das von der UNO an die Schulen, wo ein großer Mangel an Lesestoff vorhanden ist, verteilt wird. In der westafghanischen Stadt Herat unterstützt der "Open Media Fund for Afghanistan" eine Zeitschrift für den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft.

Quelle: Das Interview erschien am 29. Juli 2002 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

Quellen

  • Ahmed Rashid, Die Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, Droemer, München 2001, 432 Seiten, 19,90 Euro.

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