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06. April 2013. Analysen: Indien - Wirtschaft & Soziales Zwischen Aufklärung und Voyeurismus

Slumtouren in Mumbai

Slumtourismus boomt. In Mumbai werden seit 2006 geführte Touren angeboten, durch Dharavi, Südasiens größten Slum. Ein Trip ins "wirkliche" Indien?

Die brodelnde Millionenmetropole Mumbai ist eine strahlende Stadt am Arabischen Meer. Besonders bekannt ist der Ort für seine glamouröse Bollywood- Filmindustrie, die hier ihren Hauptsitz hat. Aber Mumbai, ehemals Bombay, ist auch Indiens wichtigstes Finanzzentrum und einige der reichsten Menschen der Welt sind hier zu Hause. Sie stellen ihren Wohlstand lustvoll zu Schau, so wie der Milliardär Mukesh Ambani. Dieser baute sich in Mumbai ein Einfamilienhaus, das eine größere Wohnfläche besitzt als das opulente Schloss von Versailles. Ausgerechnet im Zentrum dieser schillernden Stadt liegt aber auch Dharavi, der größte Slum Asiens. Eingeklemmt zwischen zwei Bahnlinien wirken seine rußigen Wellblechdächer geduckt neben den spiegelnden Hochhausfassaden des angrenzenden Bankenviertels. Überall liegt Plastik herum, Rauch steigt auf. Mehr als eine Million Menschen leben in Dharavi. Eine Welt für sich.

Dharavi Panorama
Blick über Dharavi Foto: Gül Yavuz

Um etwas über Dharavi zu erfahren gibt es seit 2006 die Möglichkeit, den Slum mit geführten Slumtouren zu besuchen – für umgerechnet acht Euro. Besonders nichtindische Tourist_innen nutzen diese Möglichkeit; Slumtouren erleben in Mumbai derzeit einen Ansturm. Doch Slumtourismus ist kein rein indisches Phänomen. In brasilianischen Favelas und südafrikanischen Armenvierteln, den Townships, gehören geführte Touren mittlerweile zu einem festen Programmpunkt für viele Urlauber_innen. In Indien gibt es außer in Mumbai auch noch in Delhi die Möglichkeit, bahnhofsnahe Slumgebiete zu besuchen, dort ist die ansässige Nichtregierungsorganisation (NGO) Pete der Veranstalter.

In der Öffentlichkeit sind Slumtouren allerdings höchst umstritten. Ihnen wird vorgeworfen, sie seien voyeuristisch und sie werden mit Safaritouren verglichen. Für einige sind Slumtouren sogar ein Slumporno. Der Vermarktungsaspekt spielt in der Kritik ebenfalls eine Rolle. Es erscheint Vielen zynisch, mit der als schlecht wahrgenommenen Wohn- und Lebenssituation von Menschen Profit zu erwirtschaften.

Diese Meinungen teilt der Brite Chris Way allerdings nicht. Er ist der "Erfinder" der Dharavi-Touren und einer der beiden Geschäftsführer von Reality Tours and Travel, dem marktführenden Reiseunternehmen auf diesem Gebiet. Als Rucksacktourist hatte der Weltenbummler Way einst selbst eine Favela-Tour in Rio mitgemacht. Diese Erfahrung gefiel ihm und inspirierte ihn solche Touren auch in Dharavi anzubieten. "Wir wollen zeigen, wie es in einem Slum wirklich ist", sagt Way. Zusammen mit seinem indischen Freund, Krishna Pujari, gründete er deshalb Reality Tours.

Ihren Kund_innen wollen sie das wahre Indien zeigen, deshalb nannten sie ihr Unternehmen Reality Tours

Die beiden jungen Unternehmer wissen sehr wohl um die Kritik an ihren Slumtouren und bemühen sich, diese zu zerstreuen. Sie selbst sind überzeugt davon, die Bewohner_innen Dharavis keinesfalls auszustellen, sondern begreifen ihre Touren als wertvolle Aufklärungsarbeit. Die allgemeine Vorstellung der Menschen, Slums wären eine No-Go-Area, seien einfach nicht richtig, so Way. Deshalb zielt ihr Tourkonzept darauf ab, die positiven Seiten des Slums zu zeigen. Ihre Art der Darstellung finden sie auch realer als das gängige Meinungsbild. Ihren Kund_innen wollen sie das wahre Indien zeigen, deshalb nannten sie ihr Unternehmen Reality Tours. Einseitige Informationen, etwa darüber, dass die meisten Bewohner_innen Dharavis in winzigen Hütten leben und sich hier statistisch gesehen über 2000 Menschen eine Toilette teilen müssen, sagen ihrer Meinung nach nichts über die Lebensqualität in Dharavi aus und schon gar nicht über die Anwohner_innen des Gebiets. "Es sind stolze Menschen, die hart arbeiten", sagt Way. Deshalb werde hier auch nicht gebettelt: "Dafür haben die Leute gar keine Zeit." Als Way das sagt, klingt er fast stolz. Auch die Tourist_innen seien positiv überrascht davon, denn vor der Tour würden die meisten das Gegenteil erwarten.

Reality Tours
Firmenschild von Reality Tours, Veranstalter von Slumtouren in Dharavi (Mumbai) Foto: Gül Yavuz

Der Kritik der Slumtourgegner_innen, die Absicht hinter den Touren sei reine Profitgier, begegnen Way und Pujari, indem sie den überwiegenden Teil des erwirtschafteten Tourgewinns in die eigens gegründete NGO Reality Gives fließen lassen. Diese unterhält in Dharavi einen Kindergarten und ein gut frequentiertes Gemeinschaftszentrum, in dem unter anderem kostenlose Fortbildungen für Slumbewohner_innen angeboten werden. Dem Voyeurismusvorwurf wiederum stellen sie ihre ethischen Regeln entgegen. Die verbieten beispielsweise das Fotografieren während der Touren. Auch Tourist_innen, die in klimatisierten Bussen durch den Slum fahren, gibt es bei Reality Tours nicht. Alle Touren werden zu Fuß in kleinen Gruppen absolviert und dauern durchschnittlich drei Stunden.

Die Tourguides für die Besuchergruppen stammen alle selbst aus Dharavi. Einer von ihnen ist Akshay. Er trägt eine randlose Brille, legere Jeans und ein gebügeltes graues Polo-Shirt mit dem Logo von Reality Tours. Mit seiner Arbeit als Guide finanziert er sich sein BWL- Studium. Auf einige Tourist_innen wirkt sein gepflegtes Äußeres verwirrend, sie hatten sich ein anderes Erscheinungsbild von Slumbewohner_innen vorgestellt.

Auf der Tour doziert Akshay in tadellosem Englisch zunächst wissenswerte Fakten über das Gebiet: Population, Größe, Ethnien, Wirtschaft. Dharavi ist der größte und älteste Slum mit einer der weitläufigsten Rohstoff- Wiederverwertungsindustrien des Landes. In den über 10.000 kleinwirtschaftlichen Betrieben, werden jährlich mehr als 500 Millionen US-Dollar umgesetzt. "Wussten sie das, meine Herrschaften?" Dazwischen richtet er didaktische Fragen an die Tourist_innen: "Was glauben sie, wie viele Leute leben wohl durchschnittlich in so einer Slumhütte?" Entsprechend der Themen führt die Tour zunächst in das Recyclinggebiet und besichtigt einige Betriebe. Die Arbeiter_innen verrichten hier in kleinen Verschlägen mühsame und teilweise auch giftige Handarbeit. Metallcontainer werden in offenen Feuern ausgebrannt und wieder glattgehämmert, die Plastikummantelungen von Metallkabeln gekratzt, bestimmte Recyclingmaterialien in giftigen Laugen gewaschen und sogar Pappkartons werden in Dharavi wieder brauchbar gemacht. "Sehen sie, hier wird nichts weggeworfen, man kann alles wieder herrichten und zu Geld machen", sagt Akshay. Allerdings sind die Bedingungen für die Arbeiter_innen denkbar schlecht, sie verdienen zumeist weniger als zwei Dollar am Tag, tragen keinerlei Schutzkleidung und manchmal nicht einmal Schuhe. Fast immer wohnen sie in den Arbeitsräumen ihres Betriebs. Die Tourist_innen stehen leicht aneinander gedrängt und schauen auf das Gezeigte. Manchmal sind sie den Arbeiter_innen im Weg, die oft gigantische Mengen Recyclingmaterials auf ihrem Rücken durch die engen Wege wuchten.

Akshay
Akshay, Tourguide für Slumtouren in Dharavi Foto: Gül Yavuz

Nach dem Recyclingviertel werden die Wohngebiete besucht und die Tourist_innen durch die charakteristischen engen und dunklen Gassen geschleust. Sie balancieren über Wasserleitungen am Boden und versuchen angestrengt, nicht in den herunterhängenden Kabeln hängen zu bleiben oder in eine offene Abwasserrinne zu treten. Die meisten Haustüren stehen offen, die Tourist_innen schauen vorsichtig hinein. Weil wegen des Platzmangels der öffentliche Raum in Dharavi oft als Badezimmer oder Küche fungiert, beobachten die Tourist_innen auf der Tour auch viele Einwohner_innen bei der täglichen Körperhygiene oder der Zubereitung einer Mahlzeit. Schließlich gewährt Akshay Eintritt in eine extra zu diesem Zweck gemietete Slumhütte. Die Besucher_innen staunen. Selbst mit so wenig Raum auskommen zu müssen, können sie sich nicht vorstellen. Hier steht ja nicht einmal ein Bett.

Fast alle Tourist_innen zeigen sich von dem Konzept des positiven Slums begeistert

Am Ende der Tour finden sich alle in dem lokalen Büro von Reality Tours wieder. Die erschöpften Tourist_innen freuen sich über den klimatisierten Raum – und über die Toilette. Die meisten von ihnen haben es vermieden, während der Tour eine der öffentlichen Sanitäranlagen zu benutzen.

Fast alle Tourist_innen zeigen sich nun von dem Konzept des positiven Slums begeistert. Ihnen wurde überall freundlich begegnet und viele probierten sogar Leckereien aus einer lokalen Bäckerei. Jene, die vor der Tour moralische Zweifel an der Richtigkeit ihres bezahlten Besuchs plagten, sind diese nach der Tour zumeist los. Einige wirken regelrecht erleichtert darüber, ihr negatives Slumklischee nun korrigiert zu sehen. "Hier ist es gar nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte", kommentiert beispielsweise ein junger deutscher Medizinstudent seinen Besuch. Die Umlegung der Toureinnahmen auf die NGO heben alle Befragten positiv hervor, denn so haben sie das Gefühl, mit ihrem Besuch gleichzeitig etwas Gutes für den Slum getan zu haben.

Weil die Slumtouren boomen, gibt es dafür mittlerweile auch immer mehr Konkurrenzanbieter in Mumbai. Diese verfolgen unterschiedliche ethische und strukturelle Konzepte. Einige werben beispielsweise damit, durch Toureinnahmen die Universitätsbesuche ihrer Angestellten zu finanzieren. Andere verzichten ganz auf ethische Korrektheit und bedienen mit Fototouren in Luxuskarossen eben jene klassischen Schreckensvorstellungen empörter Slumtourgegner_innen – das Spektrum ist groß.

Slumdog Millionaire und Shantaram bringen die Touristenströme nach Dharavi

Doch kein anderer Anbieter ist derart erfolgreich wie Reality Tours, mittlerweile ist der Name schon zu einem Synonym für die Slumtouren in Mumbai geworden. Das liegt wohl auch an der starken Medienpräsenz des Unternehmens. Dass die Touren einmal so erfolgreich sein würden, ahnten Way und Pujari anfänglich allerdings nicht. Ihr Konzept schien nicht aufzugehen und nur wenige Tourist_innen tröpfelten auf den Touren ein. Als dann aber 2009 Danny Boyles Kinofilm Slumdog Millionaire acht Oscars gewann, war Dharavi plötzlich weltweit in aller Munde und die Besucherzahlen schnellten in die Höhe. Der Film erzählt den märchenhaften Aufstieg des jungen Jamal, der in Dharavi aufwächst und in dem indischen Pendant zu dem deutschen Showformat "Wer wird Millionär?" wie durch ein Wunder den Hauptgewinn einstreicht.
Neben dem Erfolg von Slumdog Millionaire trägt außerdem noch der bekannte Roman Shantaram von Gregory Davis Roberts zur Popularität Dharavis bei. In diesem semi-autobiographischen Werk  erfährt ein aus dem Gefängnis entflohener Australier durch seinen Aufenthalt in Dharavi eine Art Katharsis. Fast alle der befragten Slumtourist_innen geben an, entweder durch den Film oder durch den Roman auf Dharavi aufmerksam geworden zu sein.

Doch obwohl Slumdog Millionaire dafür sorgte, dass die Slumtouren florieren, sind Way und Pujari keine Fans des Films. Ihrer Meinung nach ist er oberflächlich und bedient lediglich üble Klischees darüber, wie schrecklich und brutal es in Dharavi sei: "In dem Film werden nur die schlimmsten Seiten Dharavis gezeigt, das verdreckte Gebiet bei den großen Stahlröhren und Leute, die im Abwasserkanal nach Plastik suchen. Schöne Dinge aus Dharavi, beispielsweise Hochzeiten oder andere Feste, kommen in dem Film nicht vor. Dabei sind sie so alltäglich wie überall sonst auf der Welt." Entgegen der allgemeinen Vorstellung besäßen die Menschen hier viel Lebensfreude, die vielleicht sogar größer sei, als in wohlhabenden Gebieten.

Diese Lebensfreude wird meistens von dem ausgeprägten Gemeinschaftssinn abgeleitet, der den Bewohner_innen Dharavis stets nachgesagt wird. Fast alle Medienvertreter_innen erwähnen diesen lobend in ihren Beiträgen und sogar Prince Charles, der Dharavi 2003 besuchte, hält ihn für vorbildlich. Die Slumtouren von Reality Tours verweisen ebenfalls auf den Gemeinschaftssinn in Dharavi als Quelle der Lebensqualität.

Vater mit Kind
In den Gassen von Dharavi Foto: Gül Yavuz

Doch ist die Beschwörung eines durchweg "positiven" und gemeinschaftlichen Dharavis, sei sie auch noch so wohlmeinend, nur eine Verallgemeinerung. Wie das Leben in Dharavi wirklich ist, werden wohl nur diejenigen beurteilen können, die tatsächlich dort leben und dann auch nur aus ihrer jeweiligen Perspektive. Dharavis Gesellschaftsstruktur ist nicht homogen. Wegen der hohen Mieten in Mumbai leben beispielsweise zahlreiche Angehörige der Mittelschicht in Dharavi. Sie können sich ihr Leben dort komfortabler einrichten als Müll-  oder Recyclingarbeiter_innen.
So muss die Suche nach dem authentischen Indien, das in der Vorstellung der meisten Touristen nur ein "armes" Indien sein kann, zwangsläufig scheitern. Alle Beschreibungen Dharavis bleiben lediglich gefilterte Bilder, kleine Ausschnitte aus einer komplexen und heterogenen Lebenswirklichkeit, für die sich im Detail nur wenige interessieren. Eine Slumtour bildet da keine Ausnahme.

Deshalb wird es Zeit, die Bewohner_ innen Dharavis selbst zu Wort kommen zu lassen.

Einen Anfang in diesem Sinne soll die Projektreihe SlumKings&Queens machen.

SlumKings&Queens: Eine multimediale Projektreihe

SlumKings&Queens beschäftigt sich sich in allen Modulen mit Bildern, Klischees und Innenansichten aus und um Dharavi und  will  diese in einem interaktiven Prozess mit den Bewohner_innen Dharavis neu verhandeln.

  • Den Anfang macht eine interaktive Fotoausstellung im Künstlerhaus Bethanien/Berlin Kreuzberg vom 20.- 30. September 2013 mit dem Titel: "it’s just another railway station – nächster Halt Dharavi". In der Ausstellung werden selbsterstellte Fotos von Slumbewohner_innen gezeigt und mit dem anwesenden Fotografen Chandrashekar Manalan  diskutiert. Außerdem werden Skype Telefonate mit weiteren Fotograf_innen aus Dharavi stattfinden.
  • Im Anschluss an die Ausstellung wird ein Dokumentarfilm entstehen, der das Leben und Arbeiten des Fotografen Chandrashekar Manalans aus Dharavi begleitet. Chandrashekar Manalan nimmt uns in diesem Film mit in sein Zuhause und vermittelt uns sein Leben und den Ort aus seiner Perspektive.
  • Das dritte Element bilden Filmworkshops  für Jugendliche aus Dharavi. Die Jugendlichen werden lernen, selbst Filme zu erstellen und mit dieser neuen Kompetenz die Möglichkeit bekommen, ihre Sicht der Dinge im Internet zu veröffentlichen - auf dem eigens erstellten SlumKings&Queens-Blog.
  • Anschließend wird es eine Vernetzung mit Jugendlichen aus Deutschland geben, die den SlumKing&Queens-Blog ebenfalls mit ihren Filmen füllen. Auch diese Jugendlichen werden von uns in der Filmerstellung qualifiziert. Über den Blog haben sie die Möglichkeit in einen direkten Austausch mit Jugendlichen aus Dharavi treten.

Demnächst startet eine Crowdfunding Kampagne für den Besuch des Fotografen Chandrashekar Manalan in Deutschland auf Startnext. Mit dem Crowdfunding möchten wir das Geld für die Reise  von  dem Fotografen Chandrashekar Manalan nach Berlin sammeln ihm so ermöglichen, bei seiner ersten großen Ausstellung anwesend zu sein. Jede_r bekommt so die persönliche Möglichkeit, Chandrashekar Manalan direkt zu unterstützen und in den Kontakt zu ihm zu treten.

Das Projekt braucht noch Unterstützung!

Informieren Sie sich über aktuelle Entwicklungen, besuchen Sie die Veranstaltungen und empfehlen Sie es weiter, wenn es Ihnen gefällt!

 

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