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02. Dezember 2010. Analysen: Nepal - Politik & Recht Demokratie, Legitimation und Friedensprozess

Nepal in der Krise

Viereinhalb Jahre nach dem Beginn des Friedens- und Erneuerungsprozesses befindet sich Nepal einmal mehr in einer sehr schweren politischen Krise. Dabei hatte es zunächst recht gut angefangen. Die Monarchie, die zuvor geputscht hatte, zog sich Ende April 2006 schmollend von der Macht zurück, nachdem sie das 1999 gewählte und im Mai 2002 aufgelöste Parlament wieder eingesetzt hatte.

Das umfassende Friedensabkommen zwischen der Regierung und den aufständischen Maoisten vom 8. November 2006 bildete die Grundlage für alle weiteren Schritte. Hierin wurden zum einen rasch umzusetzende Ziele festgelegt, wie die Integration und Rehabilitation der Volksbefreiungsarmee (PLA) der Maoisten sowie die Überwachung von PLA und staatlicher Armee (NA) durch die Vereinten Nationen (United Nations Mission in Nepal, UNMIN). Es wurden aber auch längerfristige Schritte inhaltlich und terminlich umrissen: Übergangsverfassung und Übergangsparlament unter Beteiligung der Maoisten (verwirklicht im Januar 2007), Einbeziehung der Maoisten in die Regierung (April 2007), Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung (April 2008), Abschaffung der Monarchie (Mai 2008), Schaffung eines säkularen und föderalen Staates.

Schon kurz nach dem Inkrafttreten der Übergangsverfassung ließ die Kooperationsbereitschaft zwischen den politischen Parteien jedoch nach, das Misstrauen wuchs. Kanak Dixit schildert in einem parallelen Beitrag ausführlich, inwieweit die Maoisten für diese Entwicklung verantwortlich zeichneten. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Wesentliche Vorgaben sowohl des umfassenden Friedensabkommens als auch der Übergangsverfassung werden heute eher von den übrigen großen Parteien, also Nepali Congress und CPN-UML, in Frage gestellt als von der UCPN-Maoist, deren unwägbares Verhalten und Festhalten an einer gewissen Militanz damit aber nicht entschuldigt werden soll. Über Fragen der exekutiven Machtausübung und der Umsetzung nachrangiger Vereinbarungen haben die führenden Politiker inzwischen offensichtlich völlig vergessen, was ihre Hauptaufgabe ist und warum im April 2008 Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung stattgefunden haben.

PLA, Armee und Straffreiheit

Ein völlig überflüssiges Problem ist das Management der PLA und die damit einhergehende Kontrolle dieses Prozesses durch UNMIN. Das umfassende Friedensabkommen vom November 2006 sprach weder davon, dass alle PLA-Kämpfer in die staatliche Armee integriert werden sollten (lange Zeit die Forderung der UCPN-Maoist) noch war von einer zahlenmäßigen Begrenzung der betroffenen PLA-Kämpfer die Rede (bis heute massiv von der Armeeführung, dem Nepali Congress und zumindest dem konservativen Flügel der CPN-UML gefordert). Es geht bei der ursprünglichen Vereinbarung wörtlich um Integration und Rehabilitation und der Bezugspunkt können Armee, Polizei, staatliche Institutionen oder schlicht und einfach die Gesellschaft sein. Ohne diese Maßnahme ist einer dauerhafter Frieden nicht gewährleistet.

Armed Police in Kathmandu
"Armed Police" bei einer Demonstration von Studenten gegen die Bildungssituation im Frühjahr 2008 in Kathmandu. Foto: Max Kölling

Ein weiterer Streitpunkt, der bereits im Frühjahr 2009 eskalierte, war die Frage nach der Einhaltung der Vereinbarungen seitens der staatlichen Armee. Als Hintergrund muss man wissen, dass die Stärke der Armee vor ihrer im November 2001 erfolgten Mobilisierung gegen die maoistischen Aufständischen erheblich geringer war als zu Beginn des Friedensprozesses im Jahre 2006; zu ihrer Unterstützung war außerdem noch eine bewaffnete Polizeitruppe geschaffen worden.

Im Friedensabkommen und in der Übergangsverfassung war festgelegt worden, dass PLA und staatliche Armee der Aufsicht durch UNMIN unterstellt werden sollten und bis zum Abschluss des Integrationsprozesses keine Neurekrutierungen vorgenommen werden sollten. Letzterer Auflage widersetzte sich die Armeeführung unter dem inzwischen im Ruhestand befindlichen COAS (Chief of the Army Staff) Katawal im Frühjahr 2009. Zu jener Zeit lag die Leitung der Regierung und auch das Verteidigungsministerium in den Händen der CPN-Maoist, die als ganz klarer Sieger aus den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung hervorgegangen war. Die Regierung, insbesondere das Verteidigungsministerium, untersagten die von Katawal angestrebte Neurekrutierung. Als letzterer diese Anordnung missachtete, wurde er von der Regierung entlassen; Staatspräsident Yadav machte diese exekutive Maßnahme jedoch wieder rückgängig. Eine Staatskrise war perfekt: Die Regierung von Premierminister Pushpa Kamal Dahal trat zurück; eine Klage der CPN-Maoist vor dem Obersten Gerichtshof gegen das Einschreiten des Staatspräsidenten ist bis heute nicht entschieden.

In diesen Wochen ist das Thema erneut in die Schlagzeilen gerückt. Abermals hat die Armee mit Rekrutierungen begonnen, an denen sie die von CPN-UML und Nepali Congress dominierte Regierung nicht gehindert hat. Doch die Armeeführung geht heute noch weiter. Sie fordert, UNMIN solle in Zukunft nur noch die PLA in ihren Lagern überwachen, nicht aber die staatliche Armee, wie es Friedensabkommen und Übergangsverfassung vorsehen. Darüber hinausgehend macht die Armee klar, dass sie am liebsten eine völlige Einstellung der Arbeit von UNMIN sähe. Hierin findet sie Unterstützung sowohl durch den Nepali Congress als auch durch den konservativen Flügel der CPN-UML, dem auch die Verteidigungsministerin Bidya Bhandari zuzuordnen ist. Die Einstellung der Arbeit von UNMIN ohne den Abschluss der Integration der PLA-Kämpfer aber würde den ganzen Friedensprozess auf das Höchste gefährden.

Als ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang die Fortdauer der Straffreiheit zu erwähnen. In der Zeit des maoistischen Aufstands und des königlichen Putsches sind zahlreiche Kapitalverbrechen begangen worden, um deren Aufklärung sich bis heute niemand wirklich kümmert. Selbst in Fällen, in denen tatsächlich einmal Schuldige ermittelt werden, können diese sicher sein, dass sie von oben gedeckt werden, sei es durch die Führung der CPN-Maoist, sei es durch die Armeeführung und die ihr wohl gesonnenen Politiker von Nepali Congress und CPN-UML. Die Rechtsverletzungen waren nach der im November 2001 erfolgten Mobilisierung der Armee auf beiden Seiten völlig eskaliert. Allein mehr als 1000 von der Armee damals verhaftete Personen sind bis heute spurlos verschwunden. Diesbezügliche Zahlen, in in den maoistischen Verantwortungsbereich fallen, mögen geringer sein, sie sind aber nicht weniger entschuldbar. Die Aufklärung dieser Fälle ist ebenso wichtig für den Erfolg des Friedensprozesses wie die Integration und Rehabilitation der PLA.

Demokratie und Legitimation

Alle politischen Parteien Nepals haben große Probleme mit der Verwirklichung parteiinterner demokratischer Strukturen und der Einbeziehung aller Gesellschaftsgruppen des Landes. Parteien wie Nepali Congress und CPN-UML, deren Wurzeln bis in die späten 1940er Jahre zurückreichen, behaupten gerne von sich, die einzigen wahren demokratischen Parteien zu sein. Aber Demokratie bedeutet „Herrschaft des Volkes", d.h. wer ein politisches Amt bekleidet, sollte vom Volk durch Wahlen für diese Aufgabe bestimmt worden sein. In entsprechender Weise sollten parteiintern alle Parteifunktionäre von der Parteibasis gewählt werden. Die bei allen nepalischen Parteien weit verbreitete Politik der Nominierung durch die oberste Parteiebene passt nicht zu einer Demokratie. Schließlich sollten zumindest die Parteien, die sich als nationale Parteien sehen, für alle Gesellschaftsgruppen offen sein; sie sollten nicht von bestimmten Gruppen der Gesellschaft oder gar Familien dominiert werden. Schließlich sollte das Parteiprogramm die Interessen und Forderungen möglichst aller Gruppen des multiethnischen und multikulturellen Staates Nepal einbeziehen.

Soldaten üben in Kathmandu
Nepalesische Soldaten üben auf einem Militärgelände in der Innenstadt von Kathmandu. Foto: Max Kölling

Die Realität sieht bekanntlich anders aus. Die Führung der größeren Parteien liegt seit über 60 Jahren in den Händen von männlichen Mitgliedern bestimmter Familien aus dem Kreis der Bahun- und Chhetri-Kasten. Angehörige anderer Gruppen und Frauen sind nach wie vor Ausnahmen. Was dies in der Praxis bedeutet, mag am Beispiel des Nepali Congress erläutert werden. Seit ihrer Gründung wird diese Partei von Angehörigen einer Brahmanen-Familie dominiert, nämlich der erweiterten Koirala-Familie. Nach dem Tod ihres charismatischen Führers B.P. Koirala im Jahre 1982 mag die Führung für einige Jahre vakant gewesen sein, aber politische Parteien waren unter dem königlichen Panchayat-System ohnehin verboten. Als 1990 die politische Macht zurück in die Hände der Parteien wanderte, ging der Stern seines Halbbruders Grija Prasad Koirala auf. Dieser war zweifelsohne einer der herausragenden Politiker nach 1990, aber er hätte Partei und Vaterland besser gedient, wenn er sich mehr um eine Demokratisierung von Staat und Partei bemüht hätte. Statt dessen versuchte er bis zu seinem Tod im März 2010, alles unter seiner direkten Kontrolle zu halten und vergab wichtige Machtpositionen vorrangig an Mitglieder seiner erweiterten Familie oder deren Klientel. Ein paar Beispiele: Noch als seine Gesundheit sich stark verschlechterte, versuchte er seine Tochter und andere Verwandte in wichtige Staats- und Parteiämter zu hieven. 30 der 240 Direktkandidaten des NC bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung im April 2008 gehörten der erweiterten Koirala-Familie an. Nur zwei von ihnen wurden gewählt, was verdeutlicht, was der durchaus politisch bewusste Wähler von dieser Vetternwirtschaft hielt. Zu den vom Volk abgelehnten Politikern der Koirala-Familie gehörten u.a. Girijas Tochter Sujata und sein Neffe Sushil Koirala; dennoch streben beide auf dem anstehenden Parteikonvent des Nepali Congress führende Parteiämter an.

Aber auch andere Parteien lassen das nötige Verständnis für Demokratie und Legitimation vermissen. Das Ergebnis der Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung hat bewiesen, dass die Menschen in Nepal über ein großes politisches Bewusstsein verfügen. Sie erkannten, welche Parteien und Politiker vorrangig für das Scheitern des politischen Systems von 1990 verantwortlich waren. Diese wurden von den Wählern in großem Maße abgelehnt. Betroffen waren in erster Linie Politiker von Nepali Congress and CPN-UML. Dennoch hatte die Ablehnung durch die Wähler keine Auswirkung auf die Einflussnahme der betroffenen Politiker und Parteien. Obgleich sie von den Wählern abgelehnt worden waren, wurden sie auch nach den Wahlen Premierminister, stellvertretende Premierminister, Minister usw.; nur wenige der derzeit noch im Amt befindlichen Mitglieder des Ministerrats sind tatsächlich vom Volk gewählt worden. Ferner entscheiden all diese abgelehnten Politiker bis heute über die Politik ihrer Parteien und geben den gewählten Abgeordneten in der auch als Parlament dienenden verfassunggebenden Versammlung vor, wie sie sich bei Abstimmungen zu verhalten haben. Hierdurch wird die durch das Wahlsystem angestrebte und auch einigermaßen erreichte Inklusivität der Versammlung, d.h. eine möglichst angemessene Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen und der Frauen, ad absurdum geführt. Dies ist nicht Demokratie, sondern unveränderte Oligarchie. Führenden Repräsentanten des Staates fehlt die Legitimation durch das Volk.

Straßenszene in Kathmandu 2008
Werbung vs. politische Banner - Straßenszene in Kathmandu. Foto: Max Kölling

Auch die CPN-Maoist ist nicht wirklich inklusiv; insbesondere wird auch ihre Führungsebene von Angehörigen sogenannter hoher Hindukasten des Berglands dominiert. Im Gegensatz zu den Führern der anderen Parteien, sind die meisten maoistischen Führer aber vom Wähler zu ihrer Führungsaufgabe legitimiert. Ohne ihre aktive Beteiligung hat daher der Erneuerungsprozess des Landes keine Zukunft. Die Stellungnahmen und das Verhalten der maoistischen Führer mögen oft irritierend sein, aber die lapidaren und ständig wiederholten Beschuldigungen der nicht gewählten Führer der anderen Parteien, die Maoisten seien allein für die Stagnation des Friedensprozesses und der Verfassungsschaffung verantwortlich, ist so nicht zutreffend. Im Gegenteil haben letztere seit Beginn des Friedensprozesses schon häufig Konzessionen gemacht, die im Gegensatz zu ihren ursprünglichen Forderungen und ihrem politischen Parteiprogramm standen. An ähnliche Zugeständnisse der beiden anderen großen Parteien kann ich mich nicht erinnern. Die konservativen Politiker aus Nepali Congress und CPN-UML müssen sich bewusst werden, dass das Verlangen nach weiterem Abweichen von den Zielen der maoistischen Partei zu einer Spaltung der CPN-Maoist führen kann, was wiederum den Friedensprozess auf das höchste gefährden würde. Dies wäre definitiv nicht im Interesse der benachteiligten und weiterhin nicht an den Entscheidungsprozessen beteiligten, wenngleich noch friedfertigen Massen benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Die Ziele der maoistischen Politik waren Bestandteil ihres Wahlprogramms; dafür wurde die Partei von den Wählern mit einer deutlichen relativen Mehrheit der Stimmen bedacht.

Restaurationsbestrebungen der Exmonarchie

Das von den Führern der großen Parteien zu verantwortende Chaos versucht noch eine weitere Interessengruppe für sich auszunutzen, nämlich der erzkonservative Flügel der Monarchisten und Hindufundamentalisten. Seit Wochen häufen sich die öffentlichen Auftritte führender Mitglieder der abgesetzten Königsfamilie. Exkönig Gyanendra und sein Sohn Paras haben angesichts der großen Krise wiederholt eine Wiederbelebung der Monarchie gefordert. Dabei denken sie an eine wesentlich größere Machtfunktion als beispielsweise Noch-Premierminister Madhav Kumar Nepal (CPN-UML), der erst vor wenigen Tagen eine kulturelle Rolle der Monarchie ins Gespräch brachte. Unterstützt wird die Exmonarchie von ihrem parlamentarischen Sprachrohr, der Rastriya Prajatantra Party (Nepal) und deren Führer Kamal Thapa, der sich wiederholt mit hindufundamentalistischen Führern in Nepal und Indien getroffen hat. Kamal Thapa versucht alles wieder rückgängig zu machen, was bisher erreicht wurde. So plädiert er für die Wiedereinsetzung der Monarchie und die Abschaffung der Republik, eine Rückkehr zum Hindustaat, eine Verwerfung der Föderalismusgedankens, die Auflösung der verfassunggebenden Versammlung und Neuwahlen. Die Partei Kamal Thapas ist dank des proportionalen Wahlsystems mit vier Abgeordneten in der 601 Mitglieder umfassenden verfassunggebenden Versammlung vertreten, jenen vier Abgeordneten, die am 28. Mai 2008 als einzige gegen die Abschaffung der Monarchie stimmten.

 

Quelle: Der Artkel erschien im Orginal in SÜDASIEN (3/2010) zum Thema "Schlüsselfragen in Nepal" am 22.09.2010.

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