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09. Januar 2013. Rezensionen: Sport & Unterhaltung - Indien MigrantInnen und Hindi-Filme in Deutschland

Rezension zu Florian Krauß' "Bollyworld Neukölln"

In seiner Doktorarbeit "Bollyworld Neukölln - MigrantInnen und Hindi-Filme in Deutschland" (2012, Konstanz: UVK) will Florian Krauß die Behauptung, dass Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund besonders Bollywood-affin seien, untersuchen:

Die Hypothese, dass eine Affinität zwischen migrantischen Zuschauern und indischem Kino besteht, wird im Folgenden kritisch untersucht: Es stellt sich die Frage, ob es zutrifft, dass Bollywood in Deutschland besonders für Menschen mit Migrationshintergrund eine attraktive Populärkultur darstellt. Diese Frage dient als Ausgangspunkt, um die Bollywood-Rezeption von Migrantinnen und Migranten zu erforschen. Der Fokus liegt dabei auf dem Stadtviertel Berlin-Neukölln. (8)

In den ersten beiden Kapiteln seiner Medienethnographie führt Krauß seine Fragestellung, seine theoretische Verortung und Überlegungen sowie sein methodisches Vorgehen aus. Er beginnt mit einer ausführlichen Diskussion des Begriffs Bollywood, zeigt die Unschärfen des Begriffs auf und die Vielfalt dessen, was damit gemeint sein kann. So führt Krauß zum Beispiel aus: "Bollywood fungiert als Label und Schlagwort, unter dem RTL 2 und Rapid Eye Movies Hindi-Filme verpacken und bewerben" (15). Für seinen Untersuchungsgegenstand benutzt Krauß dabei auch wiederholt den Begriff Hindi-Filme (z.B. im Titel). Wichtig für die Untersuchung ist insbesondere, dass Krauß von einem Bollywood-Verständnis ausgeht, das "verschiedenste Distributions- und Rezeptionsfacetten umfasst und einen weiten, medienethnographischen Blick auf verschiedene Rezeptionspraxen zulässt" (15). In seine Untersuchung bezieht er daher neben Filmen unter anderem auch Bücher, Partys und Tanzkurse mit ein.

In den Mittelpunkt der Rezeptionsanalyse stellt er dabei Migranten. Den Begriff Migranten findet Krauß dabei nicht unproblematisch, hat sich aber "mangels adäquater Alternativen" (26) für ihn entschieden. Zentral für seinen Zugang ist, dass Krauß sich explizit gegen ethnisierende Zuschreibungen ausspricht, da er nicht von feststehenden essentialistischen Ethnizitäten ausgeht. Angelehnt an das Konzept des Doing Gender in den Gender Studies spricht er von einem Doing Ethnicity. Um zu verhindern, seine Informant_innen "zu ethnisieren, zu exotisieren und zu pauschalisieren" (43) bzw. über "ethnische oder nationale Zugehörigkeit" (43) zu identifizieren, nähert er sich ihnen nicht über eine natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, sondern über den Berliner Stadtteil Neukölln-Nord. Diesen bezeichnet Krauß als "globalisierten Kiez" (43) und "traditionellen Arbeiterwohnbezirk" (44), in dem "sehr viele Migranten zu Hause sind" (44).

Die Kernmethode seiner Medienethnographie sind Gruppendiskussionen. Im Jahr 2007 führte Krauß diese in Nord-Neukölln mit nach natio-ethno-kulturellen Kriterien (potentiell) gemischten Gruppen in Kinder- und Jugendeinrichtungen bzw. Mädcheneinrichtungen durch. In vier Gruppendiskussionen diskutierten Mädchen zwischen 11 und 13 Jahren - zum Teil unter Beteiligung von Mitarbeitenden der Einrichtung, die Anfang 20 Jahre alt waren. In einer weiteren Gruppendiskussion sprachen junge Frauen zwischen 16 und 24 Jahren miteinander über Bollywood. Junge Männer zwischen 14 und 20 Jahren kamen in zwei weiteren Gruppendiskussionen in natio-ethno-kulturell gemischten Gruppen sowie in einer Gruppe des Türkischen Migrantenvereins zu Wort. Ein Jahr später führte Krauß zudem zwei Gruppendiskussionen mit zwei jungen Männern Anfang 20 bzw. zwei jungen Frauen Mitte 20 durch, die er alle als indischstämmig kategorisiert. Zu Beginn der Gruppendiskussionen ließ Krauß zudem Fragebogen ausfüllen, die er dann quantitativ auswertete.

Die Gruppendiskussionen ergänzt Krauß durch Expert_inneninterviews. Diese führt er mit Mitarbeitenden von drei Einrichtungen, in denen er die Gruppendiskussionen durchführte , sowie mit der Leiterin des Mädchentreffs MaDonna, dem Leiter des Tamilischen Kulturzentrums und dem Leiter der Deutsch-Arabischen unabhängigen Gemeinde. In den Jahren 2008/2009 interviewte Krauß den Geschäftsführer von Rapid Eye Movies, einer deutschen Distributionsplattform für indischen Film, und zudem eine Kuratorin und Tänzerin sowie eine Übersetzerin von Film-Untertiteln, die er beide als indischstämmig kategorisiert. Hinzu kommen Interviews mit sechs Mitarbeitenden in Nord-Neuköllner Asia-Shops.

Bevor sich Krauß der Analyse der Gruppendiskussionen zuwendet, stellt er im dritten Kapitel verschiedene Facetten von Bollywood in Deutschland dar. Er beginnt mit der frühen Rezeption des indischen Kinos in der BRD und DDR und betrachtet sowohl die offizielle Kinodistribution von indischen Filmen als auch Kinoaufführungen, die explizit für Migrant_innen aus Südasien organisiert wurden. Er stellt sowohl den ‚grauen Markt‘ wie den offiziellen Vertrieb von DVDs dar und geht auf die Ausstrahlung von Bollywood-Filmen im Fernsehen, insbesondere auf RTL2, aber auch auf nicht-deutschsprachigen Sendern, ein. Dabei stellt er auch  dar, wie Bollywood für den deutschen Markt adaptiert und interpretiert wird sowie welche Zielgruppen definiert werden. Kurz beschreibt Krauß Bollywood jenseits von Filmen und berichtet dabei über Bollywood-Veranstaltungen, -Internetseiten und -Bücher, sowohl allgemein in Deutschland wie speziell in Nord-Neukölln. Explizit betrachtet er die Rolle von Nord-Neuköllner Asia-Shops im Bollywood-Kontext und präsentiert die Ergebnisse seiner Interviews. Das dritte Kapitel bietet damit umfassende Informationen zu Distribution und Rezeption von Bollywood in Deutschland, von denen ich viel lernen konnte. Allerdings ging mir darüber immer mal wieder der rote Faden der Arbeit verloren und es war mir unklar, wie das soeben Gelesene mit der Fragestellung des Buches zusammenhängt und wohin die weiteren Ausführungen mich führen würden.

Zu Beginn der Analyse der Gruppendiskussionen im vierten Kapitel stellt Krauß die Erzählimpulse für die Gruppendiskussionen vor. Zu Beginn der Gespräche hat er jeweils drei Filmausschnitte aus Bollywood-Filmen gezeigt. Diese bezeichnet er als die "Hochzeitsszene" aus Main Prem Ki Diwani Hoon (2003), die "Jungfräulichkeitsszene" in Dilwale Dulhania Le Jayenge (1995) und die "Religionskonfliktszene" in Rang de Basanti (2005). Anschließend stellt Krauß - insbesondere auf Basis der Fragebogenerhebung und der Gruppendiskussionen mit den als indischstämmig kategorisierten jungen Menschen dar, auf welchen Wegen und wie Bollywood von seinen Informant_innen rezipiert wird. Wie schon in seiner Diplomarbeit (Männerbilder im Bollywood-Film. Konstruktionen von Männlichkeit im Hindi-Kino (2007), Rezension auf www.suedasien.info) legt Krauß dabei einen Schwerpunkt auf Auswertungen zu den Themenfeldern Gesang, Tanz und Liebe sowie Emotionalität. Diskussionen zu Genderfragen und zu Religion widmet er zwei umfangreiche Unterkapitel.

Als Analyse der Reaktion der Gruppen auf die Filmausschnitte ist das vierte Kapitel interessant. Beim Lesen habe ich mir allerdings auch hier die Frage gestellt, wie diese Analyse mit der Fragestellung der Arbeit zusammenhängt. In den Gruppendiskussionen erfahren wir weniger über die Bollywood-Rezeption der Diskutierenden im Allgemein als über ihre Reaktionen auf die konkreten Filmausschnitte im Besonderen. Warum Krauß sich dafür entschieden hat, mit Filmausschnitten die Diskussionen in Gang zu setzen, bleibt mir unklar. Es scheint so, als ob die meisten der Diskutierenden die Filme, aus denen sie die Ausschnitte sehen, gar nicht kennen. Sie werden also mit neuen Bildern konfrontiert, auf die sie reagieren, und nicht dazu angeregt, über ihre Bollywood-Rezeption zu sprechen. Zudem greifen die Ausschnitte Bilder auf, mit denen Jugendliche, die als muslimisch/migrantisch klassifiziert werden, ständig von Vertreter_innen, Institutionen und Medien der hegemonialen Gesellschaft in Deutschland konfrontiert werden. Einer beschäftigt sich mit arrangierten Ehen, einer mit der Frage der Jungfräulichkeit und einer mit radikalem Islam (obwohl Letzteres eigentlich nur ein Randthema in Rang de Basanti ist). Die Reaktionen der Jugendlichen auf die Filmausschnitte sagen daher möglicherweise mehr darüber aus, wie sie auf diese Themenkomplexe reagieren, als über ihr Verhältnis zu Bollywood. Ein produktiverer Impuls zur Analyse der Bollywood-Rezeption für die Gruppendiskussionen wäre vermutlich ein Zitat über besonders Bollywood-affine Migrant_innen, ein Plakat einer Bollywood-Show oder etwas anderes aus der Bollywood-Rezeption in Deutschland gewesen. Damit wären die Jugendlichen angeregter gewesen, über ihren Zugang zu Bollywood anstatt über die Filmausschnitte zu sprechen. Die Fokussierung auf Gender, Sexualität und Begehren sowie (islamische) Religion in den Filmausschnitten und der Auswertung lassen zudem Zweifel darüber aufkommen, dass Krauß wirklich so offen wie beabsichtigt an das Thema herangegangen ist. Es scheint vielmehr, dass sein Ausgangspunkt die aktuellen Debatten über Muslim_innen/Migrant_innen und die dabei (re)produzierten Bilder über die so kategorisierten Menschen waren. Das ist an sich nicht problematisch, hätte dann aber offensiver diskutiert und reflektiert werden sollen.

In der Auswertung des vierten Kapitels fällt ebenfalls auf, dass Krauß in den einzelnen Unterkapiteln entweder Auswertungen aus den Gruppendiskussionen in den natio-ethno-kulturell gemischten Gruppen oder aus jenen mit den als indischstämmig kategorisierten jungen Menschen, die er hier auch immer wieder NRI (Non Resident Indians) nennt, in den Mittelpunkt stellt. Er arbeitet hier also mit einer ethnisierten Differenz, ohne die implizite Gegenüberstellung der als NRI Bezeichneten und der Anderen explizit einzuführen und zu begründen. Das ist bedauerlich, da das Material anscheinend einen Unterschied in der Rezeption von Menschen mit biographischem Bezug zu Indien und denen ohne ergibt. Um diesen Eindruck nicht als ethnische Differenz stehen zu lassen, wäre es sinnvoll gewesen, diese Unterschiede zum expliziten Gegenstand der Analyse zu machen. Dabei wäre deutlich geworden, dass die Gruppendiskussionen mit den als NRIs Bezeichneten sich in vielerlei Hinsicht von den anderen unterscheiden: Die als indischstämmig Kategorisierten sind älter als die anderen. Sie sind nicht Teil einer Gruppe in einer Einrichtung, sondern miteinander befreundet und unorganisiert. Es scheint, als ob Krauß erst eine als indischstämmig kategorisierte Kuratorin und Tänzerin als Expertin interviewte und dann eine Gruppendiskussion mit ihr und ihrer Freundin durchführte. Die beiden als indischstämmig kategorisierten Männer wiederum scheinen über die Verwandtschaft des einen zu einer der beiden Frauen kontaktiert worden zu sein. Dieser Auswahlprozess, das Alter etc. könnten Differenzen in der Bollywood-Rezeption zu den Teilnehmenden der anderen Gruppendiskussionen begründen, ohne dass dafür eine ethnische Zuschreibung notwendig wäre. Wenn der unterschiedliche Bezug zu Indien explizit analysiert würde, könnte aber auch untersucht werden, ob es Besonderheiten im Zugang zu Bollywood gibt, die tatsächlich aus der biographischen Verbindung zu Indien stammen – und damit eine ethnisierte Differenzierung sinnvoll ist.

Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass sich aus dem Material in Bezug auf die Rolle von Migration/Migrationshintergrund/natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit sehr viel mehr hätte herausarbeiten lassen – und gleichzeitig mehr Material notwendig gewesen wäre. Als Beispiel dafür sei Krauß Diskussion der Sprachwahl bei der Bollywood-Rezeption (155-156) genommen. Er stellt fest, dass seine Informant_innen in den Kinder- und Jugendeinrichtungen die Filme lieber in deutscher Synchronisation sehen als mit Untertiteln. Dies bringt er dann mit "bildungsfernen Schichten" (155) in Verbindung. Sicher kann das Bevorzugen von Originalfassungen mit Untertiteln etwas mit dem Habitus von Bildungsbürger_innen zu tun haben und sind für das Lesen von Untertiteln Lesekompetenz sowie gegebenenfalls Englischkenntnisse notwendig. Allerdings ist es sowohl im deutschen Kino sowie Fernsehen die Norm, dass Filme synchronisiert gezeigt werden. Die Besucher_innen der Kinder- und Jugendeinrichtungen unterscheiden sich in ihren Präferenzen kaum von denen der Mehrheit der Film- und Fernsehsehenden in Deutschland. Die als indischstämmig kategorisierten jungen Menschen weichen allerdings von diesen Präferenzen ab. Sie erklären in den Gruppendiskussionen, dass sie die deutschen Synchronisationen nicht hören möchten. Krauß argumentiert, dass die Präferenz für Originalfassungen mit Untertiteln nicht durch den "indischen Background" (156) der Informant_innen zu erklären sei, da sie nicht Hindi-sprachig seien. Beim Lesen hat diese Erklärung bei mir Widerstand produziert: Ich spreche keine indische Sprache (außer Englisch) und würde trotzdem immer die Originalfassung mit Untertiteln bevorzugen. Das ist nicht nur Ausdruck meines Bildungsbürgerinnen-Habitus sondern hängt auch damit zusammen, dass ich den Klang von Hindi kenne und deswegen die deutsche Synchronisation ganz furchtbar finde.

Krauß' Versuch, ethnische Zuschreibungen zu vermeiden, scheint auf mehreren Ebenen zu scheitern. Zum einen muss er mit den ethnischen Zuschreibungen seiner Informant_innen und von ihm selbst umgehen. Zum anderen ist er mit den realen Konsequenzen von Migration konfrontiert, die sich auch natio-ethno-kulturell unterschiedlich zu manifestieren scheinen. Auch wirkt für mich der Fokus auf Nord-Neukölln nicht überzeugend. Zum einen lerne ich in seiner Arbeit zu wenig über die Bollywood-Rezeption spezifisch in Nord-Neukölln und zum anderen empfinde ich die Analyse zu sehr auf die als Muslim_innen kategorisierten Nord-Neuköllner_innen fokussiert. Die Arbeit entsteht weniger aus Nord-Neukölln heraus als sie Nord-Neukölln aufgestülpt wird. Dabei ließe sich aus dem Material sicher mehr machen, wenn es mehr zusammengeführt würde, wenn also die Gruppendiskussionen, Expert_inneninterviews und teilnehmende Beobachtungen mehr miteinander in Beziehung gesetzt und interessanten Pfaden gefolgt worden wäre. Insbesondere das Material zu den Asia-Shops scheint mir, ein nicht ausreichend ausgeschöpftes Potential zu bergen.

Methodisch problematisch erscheint mir zudem, dass ein großer Teil der Gruppendiskussionen mit Kindern geführt wurde, dies aber methodisch nicht reflektiert und die Differenz zu den Diskussionen mit Älteren nicht diskutiert wird. Hier hätte ich gerne mehr darüber erfahren, wie Kinder in Gruppendiskussionen agieren, welche Impulse besonders für sie geeignet sind, wie ihre Diskussionen ausgewertet werden können etc.

Am Ende des Buches habe ich einiges über Bollywood-Distribution und -Rezeption in Deutschland gelernt (insbesondere aus dem dritten Kapitel). Es bleibt aber das Gefühl, die These, dass bestimmte als Migrant_innen kategorisierte Menschen besonders Bollywood-affin seien, nicht besser einschätzen zu können.

 

Florian Krauß: Bollyworld Neukölln - MigrantInnen und Hindi-Filme in Deutschland
29,00 € (D)
09-2012 , 312 Seiten , br. , 9 Bilder (S/W)
ISBN 978-3-86764-350-4
Schriftenreihe: Alltag, Medien und Kultur, Band 11
Verlag: UVK Verlagsgesellschaft mbH

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