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11. Januar 2012. Rezensionen: Kunst & Kultur - Indien Hindi-Großstadtgeschichten

Hannelore Lötzke hat in Zusammenarbeit mit Studierenden am Seminar für Südasien-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin einen einzigartigen Band mit Lehrtexten moderner Hindi-Kurzprosa herausgebracht. Dieser Band ist mit seinen abwechslungsreichen Texten nicht nur eine große Bereicherung für Hindi-Lernende, die ihre Sprachkenntnisse anwenden und vertiefen möchten. Ebenso Indien-Interessierte, die sich auf literarische Bilder der drei Großstädte Delhi, Mumbai, Kolkata einlassen, kommen bei den deutschen Übersetzungen auf ihre Kosten.

Insbesondere die Idee, den Hindi-Texten auf der linken Seite die deutschsprachige Übersetzung auf der rechten Seite gegenüber zu stellen, erlauben eine intensive inhaltliche als auch stilistische Auseinandersetzung. Akustisch begleitet werden die literarischen Bilder indischer Metropolen durch eine der Lehrtextsammlung beigefügten mp3-CD, auf der die Hindi-Texte als auch die deutschen Übersetzungen von Muttersprachler_innen gelesen werden. Die Sprecher_innen interpretieren "ihre" Texte und nehmen die Hörer_innen mit auf eine literarisch-akustische Reise durch die Großstädte.

Ob Literaturwissenschaftler_in oder Übersetzer_in, beiden bieten die Texte Stoff zum Nachdenken über die Praxis und den Umgang mit übersetzter Literatur. Während "Übersetzer Fremdes erkennbar machen" (S. 11) und das Original rekonstruieren sollen, haben Literaturwissenschaftler_innen die Aufgabe, "die literarische Form deutend aufzulösen" (S. 11). Im Mittelpunkt dieses Projekts stand nicht nur - wie in der Fremdsprachenausbildung oft verlangt - die philologische Übersetzung, sondern gleichermaßen die Auseinandersetzung mit der literarischen Übersetzungspraxis (S. 10). Diese doppelbödige Herangehensweise kommt den Übersetzungen zugute.

Buchcover Hindi-Großstadtgeschichten
Lötzke, Hannelore (Hg.): Hindi-Großstadtgeschichten mit deutscher Übersetzung. Foto: Buske Verlag

Um die hindisprachigen Texte lesen und interpretieren zu können, bedarf es eines erweiterten Grundwortschatzes sowie der sicheren Beherrschung grammatikalischer Strukturen. Das umfangreiche Glossar am Ende einer Geschichte ermöglicht nicht nur das Verstehen und Wiederholen grammatikalischer Strukturen, auch am Thema Großstadt interessierte Hindi-Lernende können ihren Wortschatz mit ausgewählten Vokabeln anreichern.

Entstanden ist ein Band mit literarischen Texten zu zwischenmenschlichen Problemen in indischen Großstädten. Dabei fiel die Wahl auf drei Texte von unterschiedlich bekannten Hindi-Autor_innen, die "in einfühlsamen Kurzgeschichten das Mosaik literarischer Portraits" (S.9) zwischen den 1970er und 1990er Jahren zeichnen. Im Mittelpunkt stehen literarische Figuren, die ihre inneren Befindlichkeiten spiegeln. Das oft nicht selbstgewählte Großstadtleben birgt einerseits die Gefahr psychischer Instabilität und den Verlust sozialer Bindungen an die Familie, andererseits gewinnen die Figuren in der Anonymität an persönlicher Freiheit.

Kamles Bakhsis Lautti lahar (1984), von Caty Sood mit "Wie eine zurückrollende Welle" übersetzt, beschreibt die hitzige Busfahrt eines in Mumbai lebenden Paares. Die Frau reflektiert, wie beide über das Alltagsleben in einer Großstadt die Freude an Gemeinsamem verloren haben. "Was ist bloß mit ihr geschehen - bis vor wenigen Jahren machte ihr in demselben Bombay beim Rennen, Laufen, Bus fahren nichts etwas aus (...)" (S. 15). Heute ist sie das "Opfer ungeheurer Frustration" (S. 27). Priyadarsans Ajnabipan (1995), deutsch von Maria Framke und Anja Katrin Krause, handelt vom Alleinsein einzelner Menschen in Delhi, die lediglich der Weg in einen Telefonshop verbindet, um nach Hause zu telefonieren. "Wie vertraut sie schien, die Fremdheit in dieser Stadt!" (S. 53). In Mrdula Gargs Rukavat (1977), übersetzt von Guntram Wischnewski, gewinnt eine Frau in der Anonymität die Freiheit für eine außereheliche Beziehung. "(...), lass dich treiben! Lass dich fallen! Lös dich auf!" (S. 75).

Abgerundet wird der Band mit der Zusammenstellung zweier Auswahlbibliographien. Zum einen wird weiterführende Literatur zum Thema Literarische Bilder in den Großstädten Delhi, Mumbai, Kolkata aufgeführt. Die zweite Auswahlbibliographie lädt zum Schmökern in weiteren modernen Hindi-Erzählungen mit deutscher Übersetzung ein. Dem Engagement der Herausgeberin Hannelore Lötzke und der Zusammenarbeit mit den Übersetzer_innen und Sprecher_innen ist es zu verdanken, dass ein unkonventioneller und ebenso origineller Band entstanden ist. Ich wünschte mir, dass mehr solcher Arbeiten den Weg in Verlage fände.

 

Lötzke, Hannelore (Hg.): Hindi-Großstadtgeschichten mit deutscher Übersetzung. Buske Verlag, Hamburg 2011, 107 Seiten inklusive mp3-CD. ISBN 978-3-87548-611-7. 19,90€.

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