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15. Mai 2007. Rezensionen: Indien - Wirtschaft & Soziales Wirtschaftsmacht Indien

Oliver Müller beschreibt Indien als Chance und Herausforderung für uns

"Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens", "Weltmacht Indien. Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert", "Angriff aus Asien. Wie uns die neuen Wirtschaftsmächte überholen" - die Liste ähnlich und zum Teil recht bedrohlich klingender Sachbuchtitel häuft sich seit der zurückliegenden Frankfurter Buchmesse 2006 und ließe sich noch fortsetzen. Auffallend viele aktive oder ehemalige Korrespondenten deutschsprachiger Zeitungen befinden sich unter den Autoren, was auch ganz unabhängig von der Region Südasien einem aktuellen Trend unter Journalisten hin zum Sachbuch entspricht. Oliver Müller ist seit 2003 als Süd- und Südostasienkorrespondent und gelegentlicher Blogger der Zeitung "Das Handelsblatt" in Delhi ansässig und hat zuvor bereits mehrere Jahre in Hongkong gearbeitet. Insofern scheint er förmlich dazu berufen, nicht nur Indiens Aufstieg zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht und dessen Auswirkungen auf Europa zu beschreiben, sondern auch den Vergleich zwischen China und Indien in seine Betrachtungen zu integrieren.

Wie bereits im Untertitel, macht Müller auch in der Einleitung deutlich, an wen er sich wendet und bei welchem Vorwissen er sein Zielpublikum offenbar abzuholen müssen glaubt: "Software statt Schlangenbeschwörer" lautet die Zwischenüberschrift zum ersten Abschnitt, in dem der Autor allen Ernstes behauptet, dass Indien bislang "ein Synonym für unbeschreibliches Elend, okkulte Sekten, Schlangenbeschwörer, Fakire und Unberührbare" gewesen sei. Doch "statt mit Gurus, Slums und Schlangenbeschwörern" mache das Land nun auf ein Mal als "Technologienation Schlagzeilen, die Europa hochwertige Arbeitsplätze streitig macht". Zwar spiegeln diese Indien-Stereotype mitnichten eine plötzlich wundersam gewandelte "indische Situation", sondern wenn überhaupt, eine allzu lange vorherrschende Ignoranz und klischeebehaftete Indienwahrnehmung hierzulande wider, doch diesen wichtigen Unterschied beachtet Müller nicht. Vielmehr zeichnet er gleich ein weiteres eurozentrisches Angstbild in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung Asiens: "Der parallele Aufstieg Indiens und Chinas nimmt Europa von zwei Seiten in die Zange: bei Muskel- und Hirnarbeit, bei Massenproduktion und Forschung". Nicht nur die Zangenmetapher bemüht der Autor mehrfach in seinem Buch, sondern die drastischen, an Naturgewalten und -katastrophen erinnernden Bilder durchziehen das gesamte Buch. Ständig "schwillt" etwas bedrohlich an, "wuchert" oder "quillt über", "flutet" die indische Pharmaindustrie den globalen Markt mit Generika, sendet Indien "eine Lawine billiger Arbeitskräfte und Akademiker auf einen zunehmend globalisierten Arbeitsmarkt" oder "spült" wiederum "die anrollende Lawine hochqualifizierter und gut bezahlter Arbeitsplätze ungeahnten Reichtum in die Kassen".

Ärgerlich und in Bezug auf Indien denkbar unpassend ist auch, wie häufig Müller die Metapher des "Hungers" strapaziert, um die Markt- und Konsumorientierung der aufstrebenden indischen Mittelschicht und Unternehmer zu beschreiben. Erfolgreiche indische Großunternehmer werden dagegen schon mal als "Parvenüs" oder "Emporkömmlinge" bezeichnet, ohne dass hier ein Bewusstsein über die Abfälligkeit dieser Begriffe vorhanden zu sein scheint. Und so sehr es einerseits zu begrüßen ist, dass Indien trotz des ausgeprägten europäischen Sinozentrismus endlich als nicht minder wichtiger Wirtschafts- und Forschungspartner Europas in Asien Anerkennung findet, so bedauerlich ist es andererseits, wenn China nun in der Kontrastierung beider Länder auf die Stereotype der "billigen Muskelkraft" und "Kopierwut" reduziert wird. Selbstverständlich sind Journalisten angehalten, ihre Geschichten möglichst einprägsam und bildgewaltig zu erzählen, doch wenn es Müller, wie er wiederum an anderen Stellen seines Buches überzeugend darlegt, gerade nicht um die Bestärkung westlicher Ängste, sondern um eine fundierte Wissensvermittlung und Überwindung klischeehafter Sichtweisen auf Indien geht, kann man diese bewusst oder unbewusst eingesetzten Bilder nur als äußerst kontraproduktiv betrachten.

Ein weiteres Problem ist die fehlende Kohärenz einiger der insgesamt zehn Kapitel. Sehr große thematische Bögen versucht Müller darin zu schlagen, doch manche Kapitel wirken eher, als hätte er seine über die Jahre veröffentlichten Artikel für diesen Band überarbeitet und aneinander gefügt. Das führt zu vielen unnötigen Wiederholungen des bereits in vorangegangenen Kapiteln Gesagten und nimmt manchen Darstellungen die Prägnanz und Originalität, die sie in einer etwas strafferen Form besitzen würden. Dass Müller auch ganz anders kann, zeigt er beispielsweise an seinen beiden Exkursen zur Bildung und zur drohenden Energie-, Wasser- und Umweltkrise, wo auch kritisch-analytische Abwägungen sichtbar werden, die man in vielen seiner markteuphorischen Darlegungen wiederum vermisst. Letzteres wird auch dadurch verstärkt, dass in den wörtlichen Zitaten überwiegend (Groß-)Unternehmer aus Indien und Deutschland zu Wort kommen oder Politiker wie Wirtschaftsminister Kamal Nath, der mit einer yuppieesken Aussage wie "Europa kämpft um den Erhalt der 35-Stunden-Woche. Unsere Menschen wollen den 35-Stunden-Tag" angeblich in etwas überspitzer Form die Arbeitseinstellung der aufstrebenden Inder auf den Punkt bringt. Mal ganz abgesehen von den indischen Arbeitsrealitäten jenseits der boomenden IT-, Pharma- und anderen Industrien, für die dieses Zitat wie blanker Zynismus anmutet, sieht es selbst in den Vorzeigebereichen der indischen Wirtschaft über den massiven Druck und Schattenseiten hinweg, die auf den Arbeitnehmern lasten. Doch das ist eindeutig nicht die Sphäre, die Müller für dieses Buch betreten will, so wie er es ebenfalls vermeidet, sich mit globalisierungskritischen Positionen auseinander zu setzen. Die Forderung nach international verbindlichen Sozialstandards subsumiert er vielmehr unter "protektionistischen Reflexen" westlicher Kräfte, die "die Inder" seiner Ansicht nach nur "verwundern" würden. Auf einen Teil der so Argumentierenden mag dies zutreffen, als pauschale Aussage in Bezug auf die globalisierungskritischen Stimmen - die ja gerade in Indien in einer unüberhörbaren Deutlichkeit und Vielfalt artikuliert werden - ist es jedoch kaum überzeugend.

Ebenso einseitig negativ stellt Müller den "knebelnden" indischen Staat und seine "bremsenden" Regierungen dar, deren Hauptaufgabe er offensichtlich darin sieht, Handels- und Marktbeschränkungen schnellstmöglich abzubauen und endlich all jene Infrastruktur- und sonstige Reformen durchzuführen, die notwendig sind, um die hohen Wachstumsraten zu einem Dauerbrenner zu machen. Dem zugrunde liegt die an vielen Stellen des Buches vertretene Überzeugung, dass eine blühende Wirtschaft automatisch Wohlstand für viele, wenn nicht sogar auf lange Sicht für alle generiert, Kastenschranken und andere soziale Gefälle überwinden hilft und "sozialrevolutionäre" Kräfte zu mäßigen vermag. Ob dies wirklich Müllers Sicht und Erfahrungen in Indien entspricht oder eher als eine Art kalkuliertes Zugeständnis an sein Zielpublikum zu verstehen ist, sei dahingestellt. Wenn die freien Kräfte des Marktes jedoch auf der einen Seite so undifferenziert als positive Gestaltungsmacht gepriesen werden, während der Staat mehr oder weniger auf die Rolle seines Weichenstellers reduziert werden soll, muss dem wenigstens eine gewichtige Stimme aus Südasien gegenüber gestellt werden. In einem gerade veröffentlichten Interview mit "Spiegel online" argumentiert Muhammad Yunus, Gründer der Mikrokredite vergebenden und durchaus gewinnorientierten Grameen Bank in Bangladesch, dass die Grundlagen des freien Marktes in der jetzigen Form schädlich seien und dass Länder wie Indien und China den Markt gegenwärtig nicht richtig gestalteten: "Der Markt entwickelt sich nicht automatisch zum Nutzen der Gesellschaft. Man muss ihn formen, man muss Regeln schaffen und vor allem Werte durchsetzen." 1

Bei aller Widerspruchslust, zu der Müllers Buch reizt, lässt sich jedoch auch etwas uneingeschränkt Positives feststellen: Sehr anschaulich beschreibt er darin den Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie internationale Firmen ihre Zukunft in und mit Indien zu sichern hoffen - nicht mehr nur durch die massive Auslagerung von Dienstleistungen, sondern zunehmend auch von wissensintensiven Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsprozessen. Weit über die IT- und Software-Industrie hinaus werden in zahlreichen Zukunftsbranchen immer komplexere Entwicklungsaufgaben nach Indien verlagert, doch die positiven Effekte dieses Wissenstransfers für Europa werden nach Ansicht des Autors hier noch kaum wahrgenommen, geschweige denn gewürdigt. Hier schärft Müller durchaus den noch allzu oft durch alte Exotismen und neue Angstszenarien vernebelten Blick für die realen und denkbaren Kooperationsperspektiven zwischen Europa und Indien.

Fussnote

[ 1 ] "Menschen sind keine Geldmaschinen", Interview mit Muhammad Yunus, Spiegel online vom 8. Mai 2007.

Quelle: Oliver Müller: Wirtschaftsmacht Indien. Chance und Herausforderung für uns, München und Wien: Hanser, 2006, 302 Seiten. ISBN-10: 3-446-40675-1 / ISBN-13: 978-3-446-40675-9 / € 19,90

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