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30. April 2007. Rezensionen: Indien - Wirtschaft & Soziales Abschied von Gandhi?

Ein Reisebericht von Bernard Imhasly

Indien funktioniert nur noch partiell als Projektionsfläche für die spirituellen Sehnsüchte und Orient-Phantasien des Westens. Da das wirtschaftlich und politisch aufstrebende Land inzwischen einen nie zuvor feststellbaren Nachrichtenwert in den deutschsprachigen Medien erlangt hat, erhöhen sich auch die Informationsbedürfnisse über Indien deutlich. Auf der Angebotsseite beschleunigt dies wiederum eine zunehmend ausdifferenzierte Wissensproduktion. Besonders augenfällig ist dabei die große Zahl von Sachbüchern von Journalisten, die als Korrespondenten in Asien tätig waren oder gegenwärtig noch sind. Zu ihnen zählt auch Bernard Imhasly, der seit mehr als zwanzig Jahren in Indien lebt und unter anderem Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung und der Tageszeitung ist. Sein Band "Abschied von Gandhi? Eine Reise durch das neue Indien" hebt sich deutlich von Publikationen ab, die gegenwärtig mit Titeln wie "Weltmacht Indien" oder "Angriff aus Asien" die latenten Ängste der Europäer vor der "asiatischen Herausforderung" abrufen.

Die Titelfrage "Abschied von Gandhi?" lässt bereits erahnen, dass Imhasly seine Reise in die unterschiedlichsten Regionen West-, Nordost-, Zentral- und Südindiens als "Nostalgietrip" beginnt, wie er selbst im Epilog schreibt. Was ihn dazu motiviert, ist zunächst die Leitfrage, ob die Person und Ideen Gandhis überhaupt noch eine Bedeutung für die jüngeren Generationen in Indien besitzen. Bewegt er heute noch Menschen dazu, seinem Weg des gewaltfreien Widerstands gegen Machtmissbrauch und Gewalt zu folgen und sich gegen die alten und neuen Missstände in der indischen Gesellschaft zu engagieren, oder ist er zur bloßen Ikone und ritualisierten, aber weitgehend bedeutungslosen Referenz geworden?

Würde sich Imhaslys Reisebericht ausschließlich auf der Ebene dieser Leitfrage bewegen, wäre dies sicherlich unbefriedigend und in gewisser Weise auch anmaßend. Warum sollte den Indern denn allein aus der historischen Existenz Gandhis heraus eine Verpflichtung erwachsen, für alle Zeiten besser und moralisch integrer zu sein als der Rest der Welt? Und was bringt einen Europäer überhaupt in die Position, seinen subjektiven "Gandhi-Index" an ausgewählte Persönlichkeiten und Bewegungen in Indien anzulegen und so ihre Qualitäten zu bemessen? Zweifellos schwingen solche durchaus erklärungsbedürftigen Implikationen das ganze Buch über mit und führen beispielsweise dazu, dass Imhasly sich sichtlich schwer damit tut, anzuerkennen, dass auch die gesellschaftlichen Visionen von gewinnorientierten Unternehmern wie Narayana Murthy (Infosys) von den Ideen Gandhis beeinflusst sein können. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass er seiner Reise die Annahme zu Grunde gelegt hat, Gandhi würde ihm "den Kontrapunkt bieten, von dem aus sich die Distanz abschätzen lässt, die Indien auf dem Weg zu einer globalisierten Nation zurückgelegt hat". So ist es auch nicht verwunderlich, dass es - entgegen der Ankündigung im Untertitel - gar keine Reise durch das "neue" Indien beziehungsweise seine neu hinzugekommenen symbolischen Stätten ist. Vielmehr handelt es sich um eine Tour d'Horizon zu verschiedenen Orten, an denen Gandhi sich gezielt gegen Willkür und eklatantes Unrecht engagiert hatte und wo nichtsdestotrotz heute noch ähnliche soziale, politische, rechtliche, ökologische und ökonomische Missstände wie zu Kolonialzeiten festzustellen sind.

Genau darin liegt wiederum die Stärke von Imhaslys Buch, dessen zweite Ebene von der Frage nach den unterschiedlichen Ausprägungen und Schattierungen der Gewalttätigkeit getragen wird, die in vermeintlich gewaltlosen demokratischen Gesellschaften tief verankert sind. Geschickt benutzt er seine jeweiligen Reisestationen, um einer oder mehreren, ineinander gewachsenen Formen dieser "vielköpfigen" Gewalt nachzuspüren, die für das "neue" Indien ebenso charakteristisch sind wie für das "alte" und gegen die damals wie heute Aktivisten mit den verschiedensten Mitteln des gewaltlosen, zum Teil aber auch des gewalttätigen Widerstands vorzugehen versuchen.

Imhaslys Reise beginnt in Gujarat, dem westindischen Bundesstaat , der durch die anti-muslimischen Pogrome im Frühjahr 2002 zum jüngsten Symbol der "religiösen" Gewalt zwischen Hindus und Muslimen wurde. Dieser Station widmet er gleich zwei Kapitel und beschreibt darin mehrere Situationen und Bilder, durch die deutlich wird, dass es sich tatsächlich weniger um einen "Religionskonflikt" handelt als um einen politisch geschürten Antagonismus zwischen den Religionsgemeinschaften. Dessen Virulenz wurde in Gujarat vor allem durch den Niedergang der Textilindustrie und die damit einhergehenden Verelendung der Textilarbeiter verstärkt und zu politischen Zwecken instrumentalisiert. Tröstlich ist, dass sich trotz einer offen anti-muslimischen, in Teilen an die Apartheid erinnernden Politik der hindunationalistischen Regierung Gujarats in der religiösen Alltagspraxis von Hindus und Muslimen nach wie vor Stätten finden lassen, an denen sie ihren Glauben gemeinsam praktizieren und wo die Berührungspunkte der jeweiligen Traditionen allen Separierungsbestrebungen zum Trotz überwiegen. Einen solchen Sufi-Schrein macht Imhasly auf seinem Weg zum Somnath-Tempel ausfindig, wo ihm dann allerdings wieder deutlich vor Augen geführt wird, dass es sich um "Hindu-Terrain" handelt.

Das dritte Kapitel schildert die institutionalisierte Gewalt der staatlichen Behörden in ihrer vordringlichsten Ausprägung, der Korruption. In dem vorgestellten Fall aus Rajasthan ist sie für die systematische Ausbeutung der Landarbeiter durch Unterschlagung der ihnen zustehenden Gehälter verantwortlich. Im Kampf der von Aruna und Bunker Roy gegründeten Nicht-Regierungsorganisation Social Work and Development Centre und der von ihr unterstützten Bewegung zur Stärkung der Landarbeiter (MKSS) für ein neues Informationsgesetz, das die Behörden zu mehr Transparenz zwingt, findet Imhasly ein hervorragendes Beispiel für eine zeitgenössische Form von Gandhis politischer Strategie des Satyagraha (wörtlich: "Festhalten an der Wahrheit"). Mittlerweile sind es vor allem engagierte Journalisten, die das 2002 verabschiedete Informationsgesetz dazu nutzen, Unterschlagungen von Gehältern und andere Korruptionsfälle aufzudecken.

In einem eindringlichem Porträt der fortdauernden feudalistischen Gewalt in Nord-Bihar, die eine Folge der verhinderten Umverteilung von Landbesitz ist, zeigt Imhasly im vierten Kapitel, wie die anachronistisch anmutenden Phänomene des "Großgrundbesitzes" und der "Schuldknechtschaft" durch moderne Regierungs- und Verwaltungsstrukturen zementiert oder sogar verstärkt werden können. So engagieren sich in Bihar die grundbesitzenden Familien auf allen Ebenen der Politik und sorgen für deren systemstabilisierende Wirkung, während sie gleichzeitig Wege auftun, Entwicklungshilfegelder und sogar Nahrungsmittelzuschüsse für sich selbst abzuschöpfen, die folglich nur einen Bruchteil ihrer tatsächlichen Adressaten erreichen. Auch auf die in Bihar aktiven Splittergruppen der indischen Linken geht Imhasly in diesem Kapitel ein; während sich die Kommunistische Partei (KP) Marxisten-Leninisten/Fraktion 'Befreiung' an demokratischen Wahlen beteiligt, betrachtet die maoistische KPI ("Naxaliten") den bewaffneten Kampf als einzigen Weg, die gravierenden Probleme Bihars zu lösen.

Die staatliche, militärisch gestützte Gewalt gegen seine Bürger steht im folgenden, fünften Kapitel im Vordergrund, das die komplizierte Situation in Manipur im äußersten Nordosten Indiens darzustellen versucht, dabei jedoch nicht ganz so überzeugend wie andere Kapitel ist. Nachdem ihn die Behörden zunächst hingehalten und ihm schließlich nur ein fünftägiges Visum für Manipur ausgehändigt haben, muss Imhasly resigniert feststellen, dass er "bedeutend mehr Zeit als fünf Tage bräuchte, um der komplexen Realität in diesem winzigen Hinterhof Indiens einigermaßen gerecht werden zu können". Vor diesem Hintergrund ist die begrenzte Aussagekraft dieses Kapitels nachvollziehbar, wenngleich sich Imhasly bemüht, ein eindrückliches Bild der systematischen, durch das in Manipur geltende Kriegsrecht gedeckten Menschenrechtsverletzungen, insbesondere der sexuellen Gewalt gegen Frauen durch die indische Armee, zu vermitteln.

Mit der in den gesellschaftlichen Strukturen des Kastensystems verankerten Gewalt, die sich nach wie vor in erster Linie gegen die ehemals als Unberührbare bezeichneten Dalits (wörtlich: "Zermalmte") richtet, befasst sich das sechste Kapitel. An der sozialen Ausgrenzung und wiederholten gewalttätigen Übergriffen gegen Dalits haben auch die Quotenregelungen kaum etwas geändert, auch wenn es nicht wenige "Erfolgsgeschichten" gibt, die von den Möglichkeiten ihres sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs künden. Ein offensichtlich großes Problem bereitet Imhasly die kritische Einstellung vieler Dalits gegenüber Gandhi als "Repräsentant des Hinduismus". Auch wenn Gandhi sich sehr aktiv für die von ihm als "Harijans" ("Kinder Gottes") Bezeichneten einsetzte, stellte er nach Ansicht vieler Dalits dennoch niemals grundsätzlich die nach Kasten diskriminierende Religion in Frage. Es mag jedoch dahingestellt sein, ob man hier tatsächlich so generalisierend von einem regelrechten "Hass" auf Gandhi sprechen kann.

Das im Untertitel des Buches angekündigte "neue" Indien der Software-Unternehmen ist Gegenstand der beiden folgenden Kapitel, zunächst im achten Kapitel die gelegentlich zu Cyberabad umbenannte Stadt Hyderabad in Andhra Pradesh und schließlich die gegenwärtig am schnellsten wachsende Stadt Indiens, Bangalore, im südindischen Karnataka. Obwohl Imhasly, wie eingangs angedeutet, den Ideen der Corporate Social Responsibility (oder schlichter: des sozialen Unternehmertums) nicht allzu viel abgewinnen kann, zeigt er dennoch seine Anerkennung für den deutlich von Gandhi inspirierten Idealismus und Tatendrang zahlreicher USA-Rückkehrer, die ihre in langjährigen Karrieren geschulte Professionalität nun aktiv in Indien einsetzen wollen, um etwas für ihr Land zu bewirken.

Imhaslys Reisebericht endet an seinem Wohnort Delhi, wo er sich schließlich der offensichtlichsten Form der Gewalt, der militärischen Stärke Indiens, zuwendet. Seine Begegnung mit Staatspräsident Abdul Kalam , dem "Vater" der indischen Atombombe, führt ihn zu dem vielleicht etwas zu pauschalen Urteil, dass sich Kalam "wie viele seiner Landsleute offenbar in zwei widersprechenden Welten [...] mit der Friedensbotschaft Gandhis und der Gewaltbereitschaft des modernen Staates" eingerichtet habe. Bevor man ihm vorwerfen kann, dass er es sich damit vielleicht etwas zu einfach macht, fügt Imhasly selbst seinen Zweifel an der Befähigung einer "Schwarz-Weiß-Logik" von Gut und Böse an, der komplexen Realität Indiens gerecht zu werden.

"Abschied von Gandhi?" ist gerade deswegen ein lesenswertes Buch, weil es sehr relevante Fragen zu den vordringlichen Problemen Indiens stellt, dafür jedoch keine vorschnellen Antworten oder stereotypen Deutungen parat hält. Es empfiehlt sich damit gleichermaßen für Leser, die sich erstmalig mit Indien befassen oder die dies schon seit längerem tun. Wie "wir" in Europa uns nun optimalerweise auf die "indische Herausforderung" einstellen sollten, gehört dagegen nicht zu den Anliegen Imhaslys, weswegen sich sein Werk deutlich von anderen Sachbüchern unterscheidet, die tatsächlich mehr auf die neue Rolle Indiens im globalen politischen und wirtschaftlichen Gefüge eingehen. Es ist darüber hinaus auch ein Beispiel dafür, wie ein engagierter und gelungener Indien-Reisebereicht aussehen kann. Der alte Slogan eines renommierten Reiseführer-Verlages, "Man sieht nur, was man weiß" erfährt durch dieses Buch eine neue Bestätigung.

Quelle: Bernard Imhasly, Abschied von Gandhi? Eine Reise durch das neue Indien, Berlin u.a.: Her-der, 2006. ISBN-10: 3451286491, 22 Euro.

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