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11. November 2006. Rezensionen: Geschichte & Religion - Indien Religiöser Pluralismus in Indien und das säkulare Vermächtnis Nehrus

Shashi Tharoor: "Die Erfindung Indiens - Das Leben des Pandit Nehru"

"Die Religion ist eine schreckliche Last", beklagte 1935 Jawaharlal Nehru in seiner Autobiografie. Ausgehend von der Aktualität dieser Prämisse für sein Land hat sich der indische Schriftsteller Shashi Tharoor, der seit 1978 für die Vereinten Nationen in New York tätig ist, auf die Spuren des ersten indischen Premierministers begeben. Herausgekommen ist dabei eine facettenreiche Biografie, die viel über Nehru, aber auch einiges über die politische Haltung des Autors aussagt.

Es gab einmal eine Zeit, da war Kaschmir, die blutige Grenzregion zwischen Indien und Pakistan, ein Hort des Friedens. Bis zum 18. Jahrhundert, schreibt Shashi Tharoor, hingen dort fast alle Muslime einer "Version des Glaubens an, die stark von der sanften Mystik der Sufi-Prediger geprägt war, und lebten in Eintracht und Frieden mit ihren hinduistischen Landsleuten". Jawaharlal Nehru war ein Hindu, ein Kaschmir-Pandit, Abkömmling einer Gemeinschaft von Brahmanen aus dieser Region.

Nehru, der erste indische Premierminister, prägte neben Mahatma Gandhi die nationale Unabhängigkeitsbewegung Indiens. Mit der Unabhängigkeit und Teilung der ehemaligen britischen Kolonie 1947 wurde der bekennende Agnostiker Zeuge der blutigsten Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen, die der Subkontinent jemals erlebt hat. Muslime flohen von Indien nach Pakistan, Hindus und Sikhs in die umgekehrte Richtung. Mit religiösen Parolen auf den Lippen töteten sie sich gegenseitig, vergewaltigten Frauen und verbrannten Häuser.

Fünf grobe Leitlinien bestimmten die Politik Nehrus: Internationalismus, Demokratie, Sozialismus, Selbstbestimmung und der säkulare Charakter der indischen Nation. Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen Religionen und Kasten in Indien am Anfang des 21. Jahrhunderts hebt Shashi Tharoor vor allem das säkulare Vermächtnis Jawaharlal Nehrus hervor. Sein unermüdlicher Kampf für ein säkulares Indien war nicht immer einfach. Die Kongresspartei, die in ihren Anfangsjahren noch Hindus, Muslime und Sikhs für den indischen Unabhängigkeitskampf vereinte, zeigte spätestens in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erste Risse. Dazu hatte, worauf Shashi Tharoor zu Recht hinweist, auch die Politik des "teile und herrsche" der britischen Kolonialmacht beigetragen. Nachdem sich die Kongresspartei zunehmend radikalisierte und an Einfluss gewann, förderten Kolonialpolitiker gezielt die Muslimliga, die später einen von Indien separaten Staat wollte und dann auch erhielt: Pakistan. Dass die Muslimliga auch gute Gründe hatte, einem Teil des vor allem hinduistischen Führungspersonals der Kongresspartei zu misstrauen, findet in Tharoors Buch keine Erwähnung. Nehru versuchte ebenso wie Gandhi immer wieder Brücken zu bauen. Er beugte sich aber im Gegensatz zu Gandhi letztendlich der Macht des Faktischen und willigte in die Teilung ein. Dennoch setzte sich Nehru auch nach der Unabhängigkeit weiter vehement für ein säkulares (Rest-) Indien und ein spannungsfreies Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen ein. Dieses Engagement ist nicht zu gering zu schätzen: Immerhin beherbergt Indien bis heute die drittgrößte Zahl von Muslimen weltweit, nämlich 150 Millionen.

Als großes Verdienst Nehrus hebt Tharoor außerdem hervor, dass er auch als Präsident seinen demokratischen Prinzipien treu blieb, während viele postkoloniale Machthaber in Asien sich autoritären Regierungsformen zuwandten. Wenig abgewinnen kann er allerdings Nehrus Vorstellungen von Internationalismus und Sozialismus. Zusammen mit dem jugoslawischen Präsidenten Tito und dem ägyptischen Staatschef Nasser rief Nehru die Bewegung der blockfreien Länder ins Leben, die sich im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und sich für eine friedliche Koexistenz und für Abrüstung einsetzten. Nehru kritisierte die Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 durch die Sowjetunion ebenso wie die Unterdrückung antikolonialer Befreiungskämpfe in der Dritten Welt durch den westlichen Imperialismus. Tharoor sieht in Nehrus Außenpolitik jedoch eine falsche Gewichtung. Er habe die "Imperative der Macht" außer Acht gelassen. "Seine außenpolitischen Erklärungen nahmen die Gestalt eines ausführlichen und extrem moralisierenden Kommentars zur Weltpolitik an, was mehr zu einer Befreiungsbewegung als zur Regierung eines Staates passt", wertet Tharoor. Es stimmt: Für "Machtpolitik" hatte Nehru nicht viel übrig. Wie Nasser einmal feststellte, betrachtete Nehru die Weltpolitik unter dem Aspekt von Interessen der Menschheit insgesamt. Tharoor bedauert, dass "diese Einstellung wenig dazu beitrug, gute bilaterale Beziehungen mit Staaten zu fördern, die Indien nützlich sein konnten". Shashi Tharoor hätte sich statt der Gegnerschaft Nehrus zu den USA eine engere Bindung des jungen Indiens an diese Großmacht vorstellen können.

Noch schärfer geht der Autor mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen Nehrus ins Gericht, die sich deutlich am Sozialismus orientierten. Er kritisiert die dominierende Rolle, die Nehru dem Staat in Schlüsselindustrien wie der Kohle- und Stahlproduktion, der Atomenergie, der Eisenbahn, dem Schiffbau und im Kommunikationssektor zuschrieb und als Premierminister auch durchsetzte. Die in den Augen Tharoors wichtigen industriellen Großprojekte, die Indien seiner Meinung nach tatsächlich nach vorne brachten – etwa Staudämme und Stahlwerke –, hätten dennoch zunächst private Investoren angestoßen.

Erklären kann sich Tharoor die Ablehnung des ersten indischen Premierministers gegenüber ausländischen Investoren mit den noch frischen Erinnerungen an die britische Kolonialzeit. In den letzten Jahren des zweiten Weltkrieges verschlang die britische Kriegsökonomie enorme Ressourcen in Indien. Die Folge waren u.a. Hungersnöte, die allein in Bengalen 1943 mehr als drei Millionen Inder dahinrafften. Dennoch sei die Haltung von Nehru falsch gewesen, dass zur politischen Unabhängigkeit auch die ökonomische Unabhängigkeit und Selbstversorgung treten müsse. "Dass eine solche Politik das indische Volk daran hinderte, sich von den Fesseln der Armut zu befreien, hat er nie eingesehen", klagt Tharoor.

Angesichts der wachsenden Spannungen und Pogrome zwischen Religionen und Kasten im modernen Indien des 21. Jahrhunderts will Tharoor den säkularen, pluralistischen Nationalismus Nehrus in Erinnerung rufen. Gleichzeitig versucht er, dieses Vermächtnis Nehrus einer marktwirtschaftlichen Politik in Indien dienstbar zu machen. Die steigende Bedeutung von Religion und Kaste in der modernen indischen Gesellschaft führt Tharoor auf die staatlich gelenkte Politik zurück, die eine Vetternwirtschaft hervorgebracht habe, die sich an partikularen Identitäten und Interessen orientiere. Vom wirtschaftlichen Wachstum, das mit der Marktöffnung Anfang der 1990er Jahre eingeleitet wurde, verspricht sich Tharoor hingegen eine Liberalisierung der Gesellschaft und eine Aufweichung der Kasten- und Religionsgrenzen.

Doch in Indien gibt es auch eine andere Lesart, die vor allem von Kritikern der neoliberalen Wirtschaftspolitik vorgetragen wird und bei Tharoor gar nicht vorkommt: Die jüngsten Spannungen zwischen Kasten und Religionen seien Ausdruck eines verschärften Überlebenskampfes, der eine soziale und ökologische Komponente beinhalte. Nehru hing wie viele seiner Zeitgenossen lange einem blinden Fortschrittsglauben an. Für Tharoor ist das kein Stein des Anstoßes. Er erweckt vielmehr den Eindruck, als bleibe diese Art von Fortschritt auch heute noch maßgeblich für die Entwicklung Indiens.

"Wenn ihr schon leiden müsst, dann sollt ihr im Interesse des Landes leiden", erklärte Nehru 1948 vor Dorfbewohnern, die für den Bau des Hirakud Staudammes umgesiedelt werden sollten. Für Nehru waren Staudämme die "Tempel des modernen Indien". Bis heute sind dafür mehr als 30 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt worden. Dass Nehru seinen Fortschrittsglauben später bereute und als "Krankheit des Gigantismus" bezeichnete, der zu viele Opfer fordere, ist weder bei Tharoor noch in indischen Geschichtsbüchern nachzulesen.

Seit Indien sich dem marktwirtschaftlichen Konkurrenzprinzip geöffnet hat, wächst mit dem Gigantismus auch die Kluft zwischen Reich und Arm weiter. Den 200-300 Millionen Indern, die zur Mittel- und Oberschicht gezählt werden, stehen 800 Millionen Inder gegenüber, von denen viele unter den aktuellen Entwicklungen leiden: weil sie für ihre landwirtschaftlichen Produkte kein Geld mehr bekommen, weil sie arbeitslos werden, weil sie sich immer weiter verschulden, weil ihnen letztendlich die Existenzgrundlage entzogen wird. "Das boomende Indien erwirtschaftet heute Reichtümer in der Hochtechnologie, gleichzeitig sind 400 Millionen Menschen unterernährt", konstatiert etwa ein Kollege von Tharoor: Der UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler.

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy oder die alternative Nobelpreisträgerin Vandana Shiva sehen diese wachsenden sozialen Unterschiede als einen wichtigen Grund für religiöse Spannungen. Auch Nehru bezeichnete die interreligiösen Konflikte kurz vor der indischen Unabhängigkeit als "Deckmantel für handfeste wirtschaftliche Interessen". Und andere Nehru-Biographen wie Tariq Ali weisen darauf hin, dass die Briten sich die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen zwar zu Nutze gemacht, die Kongresspartei jedoch den Forderungen Nehrus nicht zu genüge nachgekommen sei, um die letztendliche Spaltung des Subkontinents zu verhindern. Nehru habe immer wieder betont, dass bloßer Nationalismus nicht ausreiche, um den säkularen Charakter der Kongresspartei langfristig zu festigen. In seiner Rede als Parteivorsitzender auf dem Parteitag 1936 in Lucknow habe er deshalb von der Notwendigkeit gesprochen, Interessen entlang der Klassen- und nicht der Religionszugehörigkeit zu definieren. Dieses Vermächtnis Nehrus würde Shashi Tharoor sicher nicht teilen.

Quelle: Shashi Tharoor: Die Erfindung Indiens. Das Leben des Pandit Nehru, Insel Verlag 2006, 312 Seiten, 19,80 Euro.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Islam in Südasien .

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