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Der bisherige Übergangspremier Hamid Karzai wurde in seiner Doppelfunktion als Staats- und Regierungschef bestätigt. Auch wenn die Gegenkandidatur einer Frau und eines Vertreters der demokratischen Kräfte eine Novität für Afghanistan war, den Sieg Karzais konnten beide nicht gefährden. Zu schwer wogen der Aufruf von Exkönig Zahir Schah, für den 44-jährigen Paschtunen zu stimmen, aber auch der massive Druck des USA-Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad sowie der an einem glatt aussehenden Friedensprozess interessierten UNO, Karzai im Amt zu halten.
Als Zugeständnis an die große Zahl von Abgeordneten, deren Wut über diese Manipulationen an den beiden letzten Jirga-Tagen überzukochen drohte, stellte ihnen Karzai am Mittwoch (19.6.2002) doch noch einen Teil seines Kabinetts vor. Zu einer wirklichen Abstimmung darüber kam es jedoch nicht. Karzai bat die Teilnehmer nur, ihre Hände zur Zustimmung zu heben, was eine große Zahl auch tat. Nach Gegenstimmen fragte er schon nicht mehr. Demokratische Gruppen hatten eine eigene Kabinettsliste aufgestellt und wollten vor dem Hauptzelt symbolisch eine alternative Wahl durchführen. Doch dazu kam es nicht, nachdem einige Organisatoren Drohungen erhalten hatten.
Dass Karzais Kabinett Gegenstimmen erhalten hätte – darüber herrscht kein Zweifel. Für Unmut sorgte besonders, dass der vor wenigen Wochen vom General zum Marschall beförderte Verteidigungsminister Muhammad Qasem Fahim sein Amt sowie seinen Vizepräsidentenposten behielt. Er gilt als Drahtzieher vieler Manipulationen der Loya Jirga.
Das neue Kabinett – so weit sich das nach der Ernennung von 14 der vorgesehenen 25 Minister beurteilen lässt – unterscheidet sich in seiner ethnisch-politischen Gewichtung nicht grundsätzlich von dem in Bonn gebildeten. Die von vielen Seiten kritisierte Vorherrschaft der "Panjshiris" – so nach ihrer Herkunft aus dem Panjshir-Tal nördlich von Kabul genannt – blieb weitgehend unangetastet. Neben Fahim behielt Dr. Abdullah Abdullah sein Amt als Außenminister. Ob das auch für den mächtigen Geheimdienstchef Ingenieur Aref gilt, ist bisher unklar; er hat auch keinen Kabinettsrang, obwohl er bisher an allen Kabinettssitzungen teilnahm. Als einziger dieser Gruppe musste Innenminister Yunus Qanooni gehen. Als Karzai ihm in seiner Abschlussrede das Bildungsressort anbot, erhob sich Qanooni von seinem Sitz und wies das Angebot brüsk zurück. Nach Versammlungsende verließ er mit versteinertem Gesicht das Jirga-Gelände.
Qanoonis Nachfolger, der fast 80-jährige Taj Muhammad Wardak, ist eine politisch schwache Figur. Der Paschtune war erst Anfang des Jahres nach 16-jährigem Flüchtlingsleben in Kalifornien nach Afghanistan zurückgekehrt, um den Gouverneursposten in Paktia zu übernehmen. Wardak entpuppte sich aber bald als Parteigänger der Gruppe um Fahim. Bemerkenswert ist, dass alle Minister ihre Ämter verloren, die zur königsnahen Rom-Gruppe gehören. Dafür rückten der Amerika-Afghane und Weltbank-Ökonom Aschraf Ghani Ahmadzai, bisher Nationaler Sicherheitsberater und Chef der einflussreichen Entwicklungsbehörde, sowie zwei seiner Vertrauten in die Ressorts Bergbau und Kommunikation nach. Kriegsherren besetzen weiter lukrative Ressorts wie Planung, Handel und Landwirtschaft. Dass Karzai sich noch stärker als bisher an die großen Warlords gebunden hat, widerspiegelt auch die Wahl seiner drei Stellvertreter. Neben Fahim sind das Abdul Karim Khalili und Hadshi Abdul Qadir, die die Zentralregion Hazaradshat bzw. die vier paschtunischen Ostprovinzen kontrollieren. Karzai kündigte an, noch einen oder zwei weitere Vizepräsidenten zu ernennen. Einer davon wird wohl an einen Vertreter des usbekischen Kriegsfürsten Abdul Raschid Dostum gehen.
Auch die Frage nach einem provisorischen Parlament scheint Karzai auf seine Weise gelöst zu haben. Nachdem er die Abgeordneten aufgefordert hatte, eines zu wählen, "auch wenn es nicht im Abkommen von Bonn vorgesehen ist", kam es zu heftigen Diskussionen über die Art und Weise, wie die vorgesehenen 111 Mitglieder ausgewählt werden sollen. Zeitdruck und Verfahrenstricks ausnutzend, änderte Karzai am letzten Tag plötzlich seine Position und forderte die Abgeordneten auf, eine 45-köpfige Kommission aus ihrer Mitte zu bestimmen, die binnen eines Monats Kriterien und einen Wahlmodus erarbeiten soll. Ob das auf demokratische Weise geschehen kann, ist fraglich.
Mit Sorge nahmen Menschenrechtler die Bestätigung Fazl Hadi Shinwaris als oberster Richter zur Kenntnis. Im Januar hatte Shinwari in Interviews geäußert, dass bei den Taleban übliche Scharia-Strafen wie Steinigungen und Amputationen weiter angewendet werden sollen.
Die jungen demokratischen Kräfte konnten die Loya Jirga nur ansatzweise nutzen. Zwar machten sie mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Professor Mir Mahfuz Nedai erstmals öffentlich auf sich aufmerksam. Aber sein Stimmenanteil von 85 (bei etwa 1600 Delegierten) blieb noch unter der Zahl der geforderten 150 Unterstützerunterschriften, die er zuvor sammeln konnte, um überhaupt auf den Wahlzettel zu gelangen. Bei einer Auswertung am Donnerstag machten die demokratischen Kräfte dafür vor allem mangelnde Koordination und fehlende parlamentarische Erfahrungen verantwortlich.
Über welches Potenzial die Demokraten tatsächlich verfügen, kam bei der relativ unwichtigen und deshalb offenen Wahl der beiden Vizepräsidenten der Loya Jirga zum Ausdruck, zu der über 20 Bewerber antraten. Dabei kamen drei Kandidaten mit ausgewiesen demokratischem Hintergrund auf die ersten Plätze – Frauenministerin Sima Samar, der Psychiater Azam Dadfar und Jirga-Kommissionsmitglied Abdul Salam Rahimi. Sie ließen führende Ideologen der herrschenden Nordallianz deutlich hinter sich. Jetzt haben die demokratischen Kräfte zwei Jahre Zeit, um sich auf die Wahlen 2004 vorzubereiten.
Insgesamt hat Afghanistan die größte demokratische Übung seiner Geschichte absolviert. Angesichts weit verbreiteter Manipulationen und Drohungen war das für viele Afghanen vor allem auch ein Lernprozess. Viele verloren Illusionen über den politischen Willen und die Möglichkeiten der westlichen Länder und der UNO, wirklich freie Wahlen zuzulassen. Das kann sich sogar als hilfreich erweisen. Trotzdem darf die internationale Gemeinschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wenn jetzt die Kameras abgebaut werden und die Beobachter nach Hause reisen. Angesichts diktatorischer Tendenzen in den gegenwärtig herrschenden Strukturen kann ein Mindestmaß an demokratischen Spielregeln nur durch äußeren Druck garantiert werden.
Quelle: Dieser Artikel erschien am 22. Juni 2002 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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