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30. September 2002. Nachrichten: Politik & Recht - Südasien Blutige erste Hälfte der Landtagswahlen in Kashmir

Im indischen Teil Kashmirs, dem Unionsstaat Jammu & Kashmir (J&K), begannen am 16. September 2002 unter hohen Sicherheitsvorkehrungen die Wahlen zum Landesparlament. Diesem ersten Wahltermin folgte am 24. September ein weiterer. Die abschließenden zwei Termine fanden erst im Oktober statt. Der Wahlkampf war von schwerer Gewalt gekennzeichnet, die auch die Wahlzeit prägte und damit alle Befürchtungen bestätigte.

Kashmir ist überwiegend von Muslimen bewohnten, während die Indische Union größtenteils hinduistisch geprägt ist. Das Land hat mit der Islamischen Republik Pakistan bereits mehrere Kriege um die Gebirgsregion geführt. Muslimische Rebellen kämpfen seit 1989 gewaltsam für eine Loslösung von Indien. Delhi wirft dem Nachbarland Pakistan vor, die Extremisten zu unterstützen. Pakistan als auch die Separatisten lehnten die Landtagswahlen ab. So drohten islamistische Untergrundorganisationen mit exemplarischen Strafen für jene Bürger, die mit ihrem Gang zur Urne die als indische Fremdherrschaft bezeichnete Macht festigten. Mehr als 5,6 Millionen Menschen sollten die 87 Abgeordneten des Landesparlaments bestimmen. Die Aufteilung der Wahl in vier verschiedene Termine ist auf die offensichtlich begründeten Sicherheitsbedenken zurückzuführen. Die Hurriyat-Konferenz, die Koalition von 23 religiösen und separatistischen Parteien, boykottierten die Wahlen ebenfalls.

Bereits während des Wahlkampfs wurden über 450 Menschen getötet, darunter auch der Justizminister von J&K. Die gegen die Indische Zentralmacht kämpfenden Rebellen drohten im weiteren Wahlverlauf Kandidaten und andere mit den Wahlen befasste Personen zu töten. Noch einen Tag vor dem Wahlbeginn entging die 28-jährige Tourismusministerin Sakina Yatoo, die in einen Hinterhalt geraten war, nur knapp einem Attentat. In den folgenden Wochen überlebte sie – im Gegensatz zu mehreren ihrer Sicherheitsleute - wie durch ein Wunder insgesamt drei Attentatsversuchen.

Die Spirale der Gewalt

Die täglichen Meldungen von Überfällen, Attentaten und Opfern politisch motivierter Gewalt zeigten die schrecklichste Seite des Bürgerkriegs. Die exzessive Gewalt war in zahlreichen Varianten präsent und verdeutlichte offen und blutig einmal mehr in welcher Ohnmacht sich die umstrittene Gebirgsregion befindet. Dem NZZ-Südasienkorrespondent Imhasly zufolge stehen die Bewohner von J&K Todesnachrichten mittlerweile resigniert gegenüber. Viele denken wie ein von Imhasly zitierter Hausbootbesitzer aus Srinaga: Er sieht kein Ende des Stellvertreterkrieges zwischen Indien und Pakistan ab, solange die beiden Nachbarstaaten "nicht ernsthaft eine Lösung des Konfliktes anstreben". Auch die Aussage einer Lehrerin, nach der die Wahlen nur für den Austausch von Politiker-Gesichter gut seien, aber nicht für ein Ende der Gewalt ist exemplarisch für die Stimmung in der von Bürgerkrieg verelendeten Region.

Unterschiede der Regionen

Beim zweiten Urnengang handelte es sich um die wichtigsten Wahlbezirke, die zum Teil in der Hauptstadt Srinagar und deren Umgebung lagen. Sie waren bedeutsam, weil es 28 Wahlbezirke waren in denen zudem gleich mehrere wichtige Politiker - unter ihnen Omar Abdullah - kandidierten. Abdullah ist der Sohn des kashmirischen Regierungschefs und designierter Kronprinz der regierenden National Conference (NC).

Die 42-prozentige Wahlbeteiligung in dieser weitgehend störungsfrei verlaufenden zweiten Runde war eine Überraschung. Zum einen war dafür verhältnismäßig geringe Gewalt ausschlaggebend, mit der indische Soldaten wie auch islamistischen Untergrundorganisationen vorgingen. Zum anderen war die Beteiligung angesichts des Wahlboykotts der separatistischen Parteien ein achtbares Resultat.

Allerdings täuscht die relativ hohe Beteiligung über die Unterschiede zwischen der Jammu-Region, deren Bevölkerung mehrheitlich Hindus sind und die Wahl als ein Volksfest umfunktionierten, und dem Kashmirtal. In der Region um Srinagar blieb die Bevölkerung den Urnen überwiegend fern – lediglich in den ländlichen Bezirken verzeichneten Beobachter eine hohe Beteiligung. Das war Ergebnis des Boykottaufrufs der Separatisten und eine nicht zu übersehende Politikverdrossenheit. Das Resultat offenbarte die wachsende Spaltung zwischen Jammu und dem muslimischen Norden. Allerdings erhielten in den ländlichen Gebieten des Kashmirtals die Oppositionsparteien zahlreiche Stimmen. Beobachter werten dies als Hinweis darauf, dass es den bäuerlichen Wählern weniger um politische Ideologien als um eine bessere Regierungsführung geht.

Abnutzungserscheinungen bei der National Conference?

Abdullahs regierende NC beschuldigte allerdings nicht ausschließlich islamistische Separatisten für die Attentate, sondern auch die Opposition. Beobachter hielten das für möglich, da politische Morde unter den demokratischen Parteien ein Symptom für die Vergiftung des politischen Klimas durch jahrzehntelange Gewalt seien. Die Oppositionsparteien nannten die Vorwürfe Ausdruck der "Nervosität der Regierungspartei". Die NC beherrscht das politische Geschehen in J&K seit Generationen und zeigte klare Abnutzungserscheinungen. Omar Abdullah, der neue NC-Präsident, sah sich bei einem Wahlauftritt veranlasst, sich sowohl von seinem Vater Farooq wie auch von seinem Großvater Sheikh Abdullah zu distanzieren, um seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen. Der jüngste Spross der Abdullah-Dynastie, der als Vizeaußenminister der Zentralregierung von New Delhi wirkte, galt angeblich vielen jungen Wählern als neue Hoffnung durch ein Ende der Gewalt und einen wirtschaftlichen Neubeginn.

Die offizielle Zahlen zur Wahlbeteiligung der ersten beiden Wahlgänge wurden von Wahlbeobachtern – auch ausländischen Diplomaten - in Frage gestellt. Dennoch erkannten sie einige Zahlen, insbesondere für dörflichen Regionen, als erstaunlich hoch an. Das starke internationale Interesse und Hoffnungen westlicher Länder auf freie und faire Wahlen wurden teilweise realisiert. Indien erhoffte sich von den Wahlen eine Bestätigung seiner Herrschaft in der Himalaya-Region. Die ersten beiden Wahltermine im September schienen insgesamt – geprägt von Gewalt, bewaffneten indischen Sicherheitskräften und Wählern, die sich durchsuchen lassen mussten bevor sie zur Urne traten – eher frei als fair abgelaufen zu sein. 

Quellen

  • Diverse Meldungen der BBC
  • Regionalwahlen in Kashmir, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ)-Online, 16.9.2002
  • Bernhard Imhasly: Wahlkampf trotz Bomben und Granaten, in NZZ, 24.9.2002  

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