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04. April 2006. Nachrichten: Politik & Recht - Afghanistan Noch nicht jedes Geschütz

Apostasieprozess in Afghanistan

Sie verboten das Kabelfernsehen wegen der ihnen zu freizügigen indischen Filme und verhängten Todesurteile wegen Blasphemie gegen zwei afghanische Journalisten, die den im Land praktizierten Islam als reaktionär bezeichnet hatten. Einem Mädchen, das im Alter von neun Jahren verheiratet worden war, verweigerten sie das Recht auf Scheidung von ihrem gewalttätigen Gatten, da "Frauen das Privileg haben, ihrem Ehemann zu gehorchen".

Nicht bornierte Dorfmullahs, sondern die Mitglieder des Obersten Gerichts, das seine Existenz den in Petersberg nahe Bonn ausgehandelten Vereinbarungen über die Neuordnung Afghanistans verdankt, fällten diese Urteile. Größere internationale Aufmerksamkeit erregte das reaktionäre Gremium erst mit dem Verfahren gegen den Afghanen Abdul Rahman, der mehrere Jahre im deutschen Exil lebte und zum Christentum konvertiert ist. "Wenn er nicht zum Islam zurückkehrt, wird er die Todesstrafe erhalten" drohte der Richter Ansarullah Mawlavizada am 22. März 2006.

Er wurde wie seine Kollegen am Obersten Gericht von Präsident Hamid Karzai ernannt, kann sich aber darauf berufen, dass die Verfassung politische Einflussnahme auf die Justiz verbietet und die Richter auf die "Bestimmungen der heiligen Religion des Islam" verpflichtet. Die Todesstrafe für Apostasie, die Lossagung vom Islam, ist sogar unter fundamentalistischen Juristen umstritten, weil es für solche Fälle keine explizite Vorschrift im Koran und in der islamischen Überlieferung gibt. Sie ist jedoch im Rahmen der Sharia, die in der afghanischen Verfassung aus Rücksicht auf die westlichen Regierungen als "islamisches Recht" bezeichnet wird, eine mögliche Maßnahme.

Karzai will eine Konfrontation mit den westlichen Kritikern des Apostasieverfahrens, denen sich auch US-Präsident George W. Bush angeschlossen hat, vermeiden. Er hat eine Hinrichtung, die er genehmigen müsste, ausgeschlossen und eine elegantere Lösung angeregt. Am Sonntag wurde der Fall wegen "Verfahrensfehlern" an die Staatsanwaltschaft zurückverwiesen. Möglicherweise wird Rahman freigelassen und zur Ausreise gedrängt. Im Gespräch ist auch, ihn für unzurechnungsfähig zu erklären.

"Es kann nur ein Ergebnis geben: Tod", meinte dagegen Khoja Ahmad Sediqi, ein Mitglied des Obersten Gerichts, noch am 25. März. Sollte Karzai den Delinquenten freilassen, "könnte es einen Aufstand geben". Zahlreiche Geistliche nutzten die Freitagspredigt, um die Vollstreckung der Todesstrafe gegen Rahman zu fordern. Ermutigt fühlen können sie sich durch die große Toleranz gegenüber Zwangsheiraten, der Inhaftierung vergewaltigter Frauen wegen Ehebruchs und zahlreichen anderen entsprechend der Sharia getroffenen Maßnahmen.

Auch im Fall Rahman möchte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier "noch nicht jedes Geschütz" auffahren. Tatsächlich wäre es in diplomatischer Hinsicht ein fragwürdiges Vorgehen, nun gegen eine Verfassung zu opponieren, an deren Ausarbeitung man selbst beteiligt war, und Institutionen zu kritisieren, die man selbst mit aufgebaut hat und deren Arbeit von derzeit 2.500 Bundeswehrsoldaten geschützt wird.

Allerdings hatten die westlichen Regierungen gehofft, dass die afghanischen Partner ihrerseits eine gewisse diplomatische Zurückhaltung zeigen und auf spektakuläre Aktionen verzichten würden. Die im Parlament und den staatlichen Institutionen einflussreichen Islamisten halten jedoch offenbar die Zeit für gekommen, ihre Vorstellungen kompromisslos durchzusetzen.

Quelle: Der Beitrag erschien am 29. März 2006 in der Wochenzeitung Jungle World.

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