Inhalt

24. Mai 2004. Nachrichten: Politik & Recht - Indien Ein Augenblick der Gnade – und der Vergeltung

Sonia Gandhis Verzicht konfrontiert Indien mit seinen Werten

"Ein Augenblick der Gnade". Aus der wogenden Masse schwitzender Körper, von Parteifahnen, Sonia-Gandhi-Plakaten und Tafeln mit hastig hingekritzelten Protesten kam plötzlich das Gesicht eines Kongress-Politikers in den Bildschirm. "This is a moment of grace", stammelte er, wobei im Englischen noch die Bedeutung von 'Grazie' mitschwang: Eine Frau hat gegen eine Phalanx hasserfüllter Politiker im Alleingang und bis zur Erschöpfung einen Wahlkampf ausgefochten, eine komatöse Partei-Organisation im Rücken und vernichtende Meinungsumfragen im Ohr. Sie gewann die Wahl, die Kongress-Anhänger waren im Delirium, Parteien boten ihr Allianzen an, der Präsident gab ihr den Regierungsauftrag. Die Macht in der grössten Demokratie der Welt lag ihr zu Füssen. Doch Sonia Gandhi folgte ihrer "inneren Stimme" und wandte sich ab.

Der Politiker Salman Khursheed hatte mit dem "Augenblick der Gnade" das Gegenteil gemeint. Dies war dieser seltene Moment im Leben eines Politikers, dem Gegner den Gnadenstoss zu versetzen. Doch der Machtinstinkt des Standard-Politikers verpuffte vor der Enormität von Sonia Gandhis Geste. Denn sie traf im ganzen Land einen offenen Nerv. Plötzlich hatte diese Frau aus Italien ihre Wahlheimat mit einem Akt des freiwilligen Verzichts konfrontiert, der den Politikern vor Augen führte, wie sie, alt oder jung, urban oder bäuerlich, Frauen oder Männer, mit jeder Faser dem süssen Gift der Macht ausgeliefert waren. Die Einsicht war umso schmerzlicher, als das Konzept von 'Tyag', der freiwillige Rücktritt von Macht, Einfluss und Aemtern, einen zentralen Bestandteil der indischen Ethik darstellt, dem sich Jeder in seinem Leben stellen sollte.

Vorgelebt hatte dies, wie sich zahlreiche Zeitungen plötzlich erinnerten, der Konigssohn Gautama, der gemäss der Legende seinen Thron aufgab und zum Buddha wurde, aber auch Mahatma Gandhi, als er nach der indischen Unabhängigkeit auf jedes Regierungsamt verzichtete. Und nun kam diese Ausländerin, in der selbst befreundete Politiker wie der Kommunist Jyoti Basu zuvor "bloss eine Hausfrau" gesehen hatten, die nur dank einer Liebesaffäre mit dem Premierminister-Sohne in die mächtigste Familie Indiens katapultiert worden war. Am letzten Dienstag trat sie vor die Parlamentsfraktion und hebelte deren Raison d'être aus: "Macht hat mich nie interessiert. Der Posten eines Premierministers war nie mein Ziel. Vor sechs Jahren schwor ich mir: Sollte ich je in diese Lage kommen, würde ich meiner inneren Stimme folgen. Diese Stimme sagt mir heute, dass ich diesen Posten ausschlagen muss". Eine Zeitung nannte sie mit subtiler Selbstironie "the tallest Indian": "Niemals zuvor hat Jemand an der Schwelle zum mächtigsten Job entschieden, den letzten Schritt nicht zu tun".

Doch war es nur ein Gnadenakt, oder war es auch ein Augenblick der Abrechnung? Sonia Gandhi hatte "wie eine Wildkatze gekämpft", damit ihr Mann Rajiv Gandhi das höchste Amt ausschlage, nachdem seine Mutter Indira 1984 erschossen worden war. Doch der Druck von Partei und Staatsräson war zu gross. Sieben Jahre später bezahlte er den Preis dafür, als er 1991 von einer Bombe in Stücke gerissen wurde. Die Witwe weigerte sich damals heftig, die Partei zu übernehmen, weil sie nicht das Leben ihrer Kinder ebenfalls aufs Spiel setzen wollte. Doch im Lauf der Jahre torkelte die "verwaiste" Partei immer mehr auf den Absturz zu, und 1998 gab sie dem Druck schliesslich nach. Und nun standen die neugewählten Abgeordneten wieder am Rednerpult, und Einer nach dem Anderen – mehr denn je "Pudel an ihrer Leine" – flehte sie an, sich ihrer zu erbarmen. Die stämmige und sonst immer bullige Renuka Chaudhury sagte mit tränengebrochener Stimme: "Du denkst an die Sicherheit Deiner Kinder, wir sind ebenfalls Deine Kinder". Sonia Gandhi sass da, mit steinernem Gesicht, und liess sich keine Emotion anmerken. Nach Dutzenden von Flehrufen stand sie auf und sagte nur: "Bitte vertraut mir, dass ich den richtigen Entscheid fasse". Das Spiel war aus. Es war ihre Unabhängigkeitserklärung vor einer Partei, die ihrer Familie so viele Opfer abgerungen hat.

War es auch ein Akt der Rache gegenüber den Hindu-Nationalisten, die Sonia Gandhi seit Jahren mit Hieben unter die Gürtellinie zusetzen? Die schockierende Niederlage der nationalistischen BJP gab dieser gleichzeitig diese wundervolle Waffe in Form einer Ausländerin als indische Regierungschefin in die Hand. Sie bot sich als Zielscheibe an, welche der demoralisierten Gefolgschaft wieder ein Kampfmotiv gab. Ähnlich wie im Kampf für einen Hindu-Tempel am Ort der zerstörten Ayodhya-Moschee hätte sie damit eine landesweite und nachhaltige Agitation gegen die Regierung entfachen können, und dies mit dem virulenten Freund-Feind-Schema von Inder/Hindu gegen Ausländerin/Christin. Sonia Gandhis Ausscheren schlägt ihnen diese Waffe aus der Hand. "Mein Ziel war es immer", sagte sie bei ihrer Verzichtserklärung am 18. Mai, "die säkularen Grundlagen unserer Nation und die Armen in diesem Land zu verteidigen. Wir haben eine erfolgreiche Schlacht geschlagen, doch den Krieg haben wir noch nicht gewonnen". Sonia Gandhi mag der Versuchung der Macht widerstanden haben, doch der Kamopf gegen ihren Missbrauch geht weiter.

Quelle: Der Beitrag erschien am 23. Mai 2004 in der "Neuen Zürcher Zeitung".

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.