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Am 30. Juni hatte Kafeel Ahmed seine Mutter angerufen und sie gebeten, für den Erfolg eines Projekts zu beten, an dem er arbeite und bei dem es um globale Erwärmung gehe. Stunden später fuhr er seinen brennenden und mit Gas-Kanistern gefüllten Jeep Cherokee ins Terminalgebäude des Flughafens von Glasgow. Er entkam dem Tod mit schweren Verbrennungen, sein Beifahrer Bilal Abdullah war noch rechtzeitig aus dem Auto gesprungen und rasch überwältigt worden. Bilal ist Iraker, doch Kafeel Ahmed ist Inder, und seine Eltern leben in Bangalore. Zu den kurz darauf Verhafteten gehörte auch Kafeels Bruder Sabeel. Tage später wurde ihr Cousin Mohammed Haneef in Brisbane in Gewahrsam genommen. Die beiden Brüder, Bilal sowie der Jordanier Mohammed Asha werden verdächtigt, Tage zuvor zwei mit Sprengstoff gefüllte Mercedes in London geparkt zu haben. Die Kamikaze-Fahrt in die Flughafen-Mauer wird als Verzweiflungsakt gesehen, der wohl das Misslingen des Londoner Attentatsplans mit dem Märtyrertod sühnen sollte.
Das weltweite Entsetzen über das jüngste Terror-Vorhaben verschärfte sich, als bekannt wurde, dass die mutmasslichen Attentäter alle einen Hochschulabschluss vorweisen können. Mohammed Asha ist ein Neurochirurg, während Kafeel Ahmed eine Ausbildung als Luftfahrt-Ingenieur hinter sich hat und in Cambridge an einem Doktorat arbeitete. Sein Bruder Sabeel war in einem Krankenhaus in den Midlands angestellt, während Haneef vor einem Jahr eine Anstellung an einem Krankenhaus in Australien angenommen hatte. Und es war wahrscheinlich ausgerechnet die Universitätsstadt Cambridge, in der das Komplott geschmiedet wurde.
In Indien allerdings war es ein anderer Schock, der diese Enthüllungen in den Schatten stellte: Drei der mutmasslichen Mitglieder des Komplotts sind Inder. Und sie kommen ausgerechnet aus Bangalore, Indiens Vorzeige-Kapitale, in der ideologische Hindernisse und soziale Hürden zugunsten des freien Flusses von Wissen beseitigt sind. Plötzlich muss das Land, das sich dieser ideologiefreien Globalisierung verschrieben hat, zur Kenntnis nehmen, dass der freie Fluss von Ideen auch solche über die Herstellung von Massenvernichtungswaffen in die Welt tragen kann. In den Jahren 2005 und 2006, so fanden indische Medien rasch heraus, hatte Kafeel Ahmed in Bangalore bei der Firma Infotech Enterprises gearbeitet, die Flugzeugteile für Kunden wie Boeing und Airbus herstellt.
Bisher hatte Indien immer von sich sagen können, keiner seiner Bürger sei je auf einer Mitgliederliste der Kaida aufgetaucht. Noch vor einem Jahr hatte Premierminister Singh in Washington erklärt: "Wir haben 150 Millionen Bürger muslimischen Glaubens. Und ich sage mit einigem Stolz, dass sich keiner von ihnen Banden wie der Kaida angeschlossen hat." Dieses Selbstbild war schon damals mehr eine politische Willensäusserung als Realität. Wie es der hybriden und dezentralisierten Natur der Kaida entspricht, gibt es seit einigen Jahren auch in Indien Zellen, die sich direkt oder indirekt dem Netz zuschreiben lassen. Dafür sorgte einmal der Konflikt mit dem Nachbarn Pakistan, das als globales Ausbildungszentrum der Kaida gilt. Und zweifellos spielt dabei auch die Marginalisierung der muslimischen Minderheit eine Rolle, die historisch begründet ist, die ein rabiater Hindu-Nationalismus in den letzten 15 Jahren aber noch verstärkt hat.
Es sind die ärmsten muslimischen Bevölkerungsschichten, die von ökonomischer Unterentwicklung und Ghettoisierung am stärksten betroffen sind. Doch wie anderswo sind es die Bessergestellten, die Diskriminierungen am stärksten registrieren und dagegen aufbegehren. Die Ahmed-Brüder und ihr Cousin stammen aus einer Familie von Ärzten. Kafeels Vater hatte für die indische Regierung in Saudiarabien gearbeitet, wo die beiden Söhne eine Botschaftsschule besuchten, bevor die Familie 1994 in die Heimatstadt Bangalore zurückkehrte. Der Vater war ein strenggläubiger Muslim, und er hatte Verbindungen zu muslimischen Parteien. Dennoch zeigen Interviews mit Verwandten und Nachbarn, die seit zwei Wochen durch die indischen Haushalte flimmern, dass die Eltern einen toleranten Islam praktizierten, wie er in den Jahrhunderten des engen Kontakts mit der Hindu-Mehrheit auf dem Subkontinent geblüht hat. Noch in den Jahren nach 2002, als Kafeel an der Queen's University in Belfast studierte, hatte er laut ehemaligen Kommilitonen an interreligiösen Anlässen teilgenommen.
Waren die Ahmeds also ein Produkt des radikalen Islams in Grossbritannien? Auch diese beruhigende Erklärung wird inzwischen in Frage gestellt. Denn dass sich auch die indischen Muslime radikalisieren, zeigen nicht erst die mutmasslichen Attentäter von London. Es mögen die ersten in einem internationalen Umfeld gewesen sein, doch im Lande selber hat sich seit einiger Zeit bei Anschlägen ein Profil der Attentäter herausgebildet, das jenem der internationalen Szene ähnlich ist. Dies wurde bei den Bombenanschlägen auf die Vorortszüge vor einem Jahr in Mumbai deutlich. Die indische Öffentlichkeit hatte sich daran gewöhnt, dass es der Mafia-Untergrund ist, der bei religionspolitischen Racheakten die Fäden zog. Gerade entlang der Westküste Indiens werden diese Syndikate von Muslimen beherrscht, nicht zuletzt wegen der traditionellen Handelsverbindungen mit dem Mittleren Osten. Die Attentate vom März 1993 als Rache für die Stürmung der Ayodhya-Moschee durch radikale Hindus waren vom Schmuggler-Kartell von Dawood Ibrahim organisiert und finanziert worden. Doch bei den Eisenbahn-Anschlägen kam ein anderes Berufsbild zum Vorschein: Unter den Tätern waren ein Arzt, ein Lehrer und ein Ingenieur.
Ihnen allen ist natürlich die Religion gemeinsam. Wie in anderen Ländern versucht auch die indische Regierung zu vermeiden, den Graben zwischen den Gemeinschaften noch zu vergrössern und damit den Boden für weitere Terrorakte vorzubereiten. Bei einem Treffen mit indischen Journalisten erklärte Manmohan Singh kürzlich: "Ich konnte nicht schlafen, als ich gestern Abend im Fernsehen die Familien der verhafteten Inder sah. Wir müssen es vermeiden, Inder oder Pakistaner als Terroristen zu etikettieren. Terroristen sind Terroristen. Sie gehören keiner einzelnen Religionsgemeinschaft an." Singh erinnerte an die säkulare Grundausrichtung des Staats und die religiöse Toleranz der Gesellschaft.
Doch zum ersten Mal regt sich auch ausserhalb der Hindu-Chauvinisten Widerstand gegen das "liberale Weichspülen", wie das populäre Wochenmagazin India Today es ausdrückte. "Es ist eine falsche Annahme", hiess es dort, "dass mit dem Gebrauch des Begriffs islamischer Terror die ganze Gemeinschaft stereotypisiert wird. Die Bombenleger von London gehören nun einmal derselben Religion an, und es ist diese, die sie definiert." Sogar die linksliberale Tageszeitung The Hindu erklärte: "Mehr Muslime müssen sich darüber klarwerden, dass islamische Terroristen nicht einfach fehlgeleitete Individuen sind, sondern wissen, was sie tun, und dies im Namen des Islam tun." Indien trägt im Gegensatz zu anderen Ländern zahlreiche kaum verheilte Narben einer langen Geschichte von hinduistisch-muslimischen Konflikten. Mehr als anderswo werden diese offiziell tabuisiert. Doch diese heimliche Zensur hat das Gegenteil erreicht. Säkularismus ist zu einem ritualisierten Mantra geworden und vermag, ähnlich wie der Begriff des Multikulturalismus, die zunehmende Festigung von Vorurteilen nicht mehr zu verhindern.
Quelle: Der Artikel erschien im Orginal am 17.07.2007 in der Neuen Zürcher Zeitung.
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