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05. Oktober 2007. Interviews: Afghanistan - Politik & Recht "Die Bevölkerung ist der Bundeswehr dankbar"

Wie ist die Lage in Afghanistan wirklich?

Nadia Karim ist Mitbegründerin des Afghanischen Frauenvereins, der im Jahr 1992 von in Deutschland lebenden Exil­afghaninnen gegründet wurde. Sie bereist Afghanistan regelmäßig.

Wann waren Sie zuletzt in Afghanistan?
Von April bis Juni.
Wie ist dort derzeit die Lage?
Ich bin von Pakistan aus über den Khyber-Pass nach Kabul und von dort nach Kundus gereist. Ich habe die acht verschiedenen Provinzen besucht. Die Lage ist nicht so düster, wie sie hier in den Medien geschildert wird. Was die Sicherheits­lage betrifft: Mir ist auf meiner Reise kein einziges Mal etwas widerfahren, das gefährlich gewesen wäre. Und ich bin sehr viel herumgekommen, auch in den entlegensten Orten auf dem Land.
Wie ist die Stimmung in der afghanischen Bevölkerung?
Vor fünf Jahren war die Euphorie relativ groß. Die internationale Gemeinschaft hatte damals viel versprochen. Seit 2005 lässt die Begeisterung nach, weil man sieht, dass das Geld nicht so fließt, wie es zugesagt worden war. Der Großteil fließt an das Militär, in die Verwaltung und in die Hände von Beratern der Regierung. Ich möchte es nicht zu negativ darstellen, aber die Stimmung war durchaus schon besser. Die Menschen schimpfen, aber sie haben nach wie vor Hoffnung. Es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Menschen, die Regierung ist schwach und korrupt, all das empört viele. Positiv ist, dass sieben Millionen Kinder zur Schule gehen können, und auch die Stellung der Frauen verbessert sich. Von über 200 Parlamentariern sind 60 Frauen. Es gibt eine relative Presse- und Medienfreiheit mit acht verschiedenen Fernsehsendern, über 300 Zeitungen und Zeitschriften usw.
Wie ist die Versorgung mit lebenswichtigen Dingen: Wasser, Strom, Medizin?
Die Infrastruktur verbessert sich. Es gibt Fortschrit­te im Straßenbau. Man kann heute in sechs Stun­den von Kabul nach Kundus fahren, vor ein paar Jahren hat man da noch 16 Stunden gebraucht. In der medizinischen Versorgung sieht es nicht so gut aus. Das Problem ist, dass das qualifizierte Fachpersonal fehlt. Wir haben ja eine jahrelange Bildungslücke zu beklagen. Sechs, sieben Jahre lang konnten die Frauen nicht zur Schule gehen. Es gibt Klassen im zweiten Schuljahr, da sitzen 14jährige Mädchen.
Gibt es denn nach wie vor Angriffe der Taliban auf Mädchenschulen?
Ja, diese Angriffe gibt es. Man muss dazu sagen, dass es sich heute nicht mehr um dieselben Ta­liban handelt wie vor ein paar Jahren. Es gibt die Taliban, die von Pakistan aus unterstützt werden, vom Iran oder auch von den Amerikanern. Diese Gruppen sind heterogen und nicht zentral organisiert. Allerdings ist es so: Wenn ein Dorf und seine Bewohner sehr entschieden hinter einer Schule stehen und sie verteidigen, ist das eine andere Sache. Dann wird diese Schule auch in Ruhe gelassen. Es passieren Dutzende gute Sachen und dann eine schlechte. Die Medien berichten nur über die schlechte.
Unterscheidet sich die Lage in den verschiedenen Provinzen?
Selbstverständlich. Im Südosten wird ja sehr wenig Aufbauarbeit geleistet. Hier sind kaum Nichtregierungsorganisationen tätig, weil sie Angst haben. Das ist das Einsatzgebiet von Enduring Freedom, wo es zu Kämpfen mit Regierungs­gegnern und vielen Todesfällen unter der Zivilbevölkerung kommt. In diesen Gegenden sind die Leute sehr enttäuscht von der internationalen Gemeinschaft. Sie denken: Ihr wollt uns Hilfe leisten und bombardiert uns! Wenn nun Enduring Freedom und der Isaf-Einsatz zusammengelegt werden, kann die Bevölkerung überhaupt nicht mehr unterscheiden, wer der Gute und wer der Böse ist.
Sehen die Afghanen einen Unterschied zwischen Enduring Freedom und dem Isaf-Einsatz?
Wenn es so weitergeht, werden sie nicht mehr un­terscheiden. Enduring Freedom müsste sofort be­endet werden. Der Krieg ist keine Lösung.
Muss man die Gruppen, die gegen die Regierung kämpfen, nicht zurückdrängen? Sie haben doch kein Interesse an einem Wiederaufbau.
Der Zulauf für die Taliban wird nur größer, wenn Zivilisten umkommen. Die Amerikaner hätten gar nicht erst nach Afghanistan kommen dürfen. Sie haben die Taliban ja erst aufgebaut. Sie hätten sie auch wieder aus dem Land entfernen können.
Wenn die Amerikaner nicht gekommen wären, gäbe es noch immer das terroristische Taliban-Regime und keinen Isaf-Einsatz. Es gab ja auch die Ausbildungslager für Jihadkämpfer im Lande, die heute noch immer existieren würden.
Wenn Sie die afghanische Geschichte betrachten, muss man sich doch fragen: Wer hat denn all die Jahre die fundamentalistischen Gruppen im Lande unterstützt? Das waren doch die Amerikaner! Auch nach dem so genannten Friedensvertrag von 1989 haben sowohl die Russen als auch die Amerikaner Waffen nach Afghanistan geliefert.
Dem Einmarsch der von den Amerikanern geführten Koalition im Jahr 2001 lag ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats zugrunde.
Wenn die Amerikaner es gewollt hätten, hätten sie die Taliban auch mit anderen Mitteln entfernen können. Von 2001 bis 2005 haben die Amerikaner 90 Milliarden US-Dollar für das Militär ausgegeben, aber nur sieben bis acht Milliarden Dollar für die Wiederaufbauhilfe. Die Aufträge für den Wiederaufbau bekommen hauptsächlich amerikanische Firmen.
Wäre ein Wiederaufbau ohne eine militärische Absicherung möglich?
Nein. Der Staat hat kein Geld, etwa um eine funktionierende Polizei aufzubauen. Die Zentralregierung ist sehr schwach. Der afghanische Staat braucht Verstärkung, damit das Land unabhängig werden kann.
In Deutschland wird vor allem aus linken Parteien ein Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan gefordert. Wie beurteilen Sie das?
Kein Afghane ist für Enduring Freedom. Bei Isaf ist das etwas anderes. Das ursprüngliche Mandat hatte ja drei Teile: Es ging um die Sicherung der humanitären Lage, um die Rückkehr der Flüchtlinge und um die Bewahrung der inneren Sicherheit. Diese Dinge werden von der Bevölkerung befürwortet, aber nicht, wenn zum Beispiel Tornados entsandt werden. Wenn es so weitergeht und Zivilisten durch die Bombardierung umkommen, werden auch die Isaf-Soldaten nicht mehr als Befreier, sondern als Besatzungsmacht gesehen.
In einem Interview mit einer Vertreterin der Re­volutionary Women of Afghanistan sagte diese im vorigen Jahr der Jungle World, sie wünsche sich mehr Truppen im Land, um den Aufbau zu sichern.
Für den Aufbau ja. Ohne die internationale Gemeinschaft ist es nicht zu schaffen. Aber man muss unterscheiden zwischen den Bombardierungen, die im Rahmen von Enduring Freedom durchgeführt werden, und dem Isaf-Einsatz. Wir sind gegen den Abzug der internationalen Gemeinschaft, allerdings müsste das Mandat neu definiert werden.
Die Bevölkerung ist der Bundeswehr sehr dankbar. In Kundus etwa wurde es sehr begrüßt, was die Bundeswehr geleistet hat etwa beim Aufbau der Trinkwasserversorgung, im Straßenbau. Man findet es gut, dass die deutschen Soldaten da sind, weil man jahrelang das Gefühl hatte, alleingelassen zu werden.
Deutschland und Afghanistan verbindet eine lange Freundschaft. Die Afghanen lehnen die Russen ab, weil sie den Krieg ins Land gebracht haben, die Engländer, weil sie das Land erobern wollen, und die Amerikaner, weil sie sehr viele Fehler machen.

Quelle: Das Interview erschien im Orginal am 13. September 2007 in der Wochenzeitung Jungle World.

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