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31. März 2002. Analysen: Politik & Recht - Indien Der Pogrom in Gujarat

Von Ende Februar 2002 bis weit in den April hinein waren Gujarats Muslime den bisher schlimmsten kommunalistischen Angriffen ausgesetzt, vermutlich wurden etwa 2.000 Menschen getötet. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es immer wieder zu Gewalttaten zwischen den beiden großen Religionsgemeinschaften Indiens. Doch mit der zunehmenden Unterstützung des hindunationalisitschen Projekts durch die Mittel- und Oberschichten und dessen Rechtfertigung durch die BJP-geführte Regierung haben auch die Exzesse der religiösen Polarisierung andere Formen angenommen: Die Ereignisse in Gujarat waren weder "spontane Ausbrüche von Gewalt" (das waren auch die meisten füheren Auseinandersetzungen nicht) noch waren es "Unruhen". Die Angriffe auf Muslimen waren Pogrome, von militanten Hindunationalisten geplant und koordiniert. Ohne die Duldung durch "gemäßigte" Vertreter des Hindunationalismus hätte die Gewalt nicht über Wochen andauern können. Ministerpräsident Modi, der die Pogrome erst herunterredete und dann ihre Eindämmung verzögerte, trat zwar am 18. Juli 2002 endlich zurück, doch nur, um schnelle Neuwahlen zu ermöglichen, von denen er sich Stimmengewinne erhofft. Das zeigt, wie eng die Pogrome mit dem hindunationalistischen Projekt verknüpft sind, Indien als "Land der Hindus" neuzubestimmen, Bürgerrechte und Wirtschaftskraft der Muslime zu beschneiden und das islamische Erbe aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Im folgenden dokumentieren wir einen Text von Julia Eckert, den die "Frankfurter Rundschau" im März 2002 veröffentlichte.

Als Selina von ihrem kleinen Freund Sajid erzählt, wie er sich bis zum Schluss sicher war, dass sein Vater kommen würde, um ihn zu retten, fängt sie endlich an zu schluchzen. Denn Sajids Vater konnte nicht kommen, um seinen Sohn zu retten, weil er selbst schon tot war, erstochen von einer Gruppe von Hindu Nachbarn, die auch Selina und ihre Familie aus ihrem Dorf vertrieben hatten. Von der Vertreibung erzählte sie mit einer seltsamen Ruhe: wie ihr Haus in Brand gesetzt wurde und sie mit ihren Eltern und Verwandten in die Felder flüchtete, wie dann der Dorfvorsteher zu ihnen kam, und ihnen versprach, sie zu schützen, ihnen Wasser und Brot zu bringen; und wie er dann statt Wasser und Brot die Männer brachte, die auch das Feld in Brand setzten, in dem sie sich versteckt hatten, so dass sie alle aus den Flammen fliehen mussten. Und als sie am Rand des Feldes ankamen, wurden sie von den Männern eingefangen, ihr Vater erschlagen, die Frauen vergewaltigt, und dann alle verbrannt. Wenige haben überlebt und sie sitzen nun in einem der zahreichen Flüchtlingslager, in die sich über 100 000 Muslime Gujarats, des westlichen Bundesstaates Indiens geflüchtet haben.

Auch Latifa ist da, apathisch liegt sie auf dem Boden eines kargen Zimmers, in dem 50 Menschen hausen. 25 Mal, sagt sie, sei sie vergewaltigt worden, auch von Polizisten. Neben ihr stehen die Frauen und weinen. Alles haben sie verloren, sagen sie: ihre Familien, ihre Eltern, ihre Männer, ihr Hab und Gut, ihr Heim. Und nie wieder können sie dorthin zurueck kehren, wo sie mitangesehen haben, wie ihre kleinen Kinder erschlagen, mit Schwertern zerhackt wurden - von ihren Nachbarn. Immer wieder hört man die Geschichte von der Schwangeren, deren Bauch mit einem Säbel aufgeschlitzt wurde, und der Fötus herausgezerrt wurde; oder von der, die auf der Flucht vor den Mördern ein Kind gebar, das dann aber, als es erst zwei Tage alt war, geköpft wurde.

Immer noch sterben täglich Menschen, Muslime in Gujarat. Der Ministerpräsident Narendra Modi, Vertreter der Bharatiya Janata Party (BJP), verkündete zwar nach 72 Stunden, am 2. März, alles sei unter Kontrolle, doch das Morden ging täglich weiter, breitete sich aus über den ganzen Bundesstaat und kostete bis heute nach offiziellen Schätzungen mindestens 900 Menschen das Leben. Wahrscheinlich liegt die faktische Zahl viel höher - regierungsunabhängige Beobachter sprechen von etwa 2.000 Ermordeten - doch die Leichen wurden verbrannt und die Polizei weigert sich, Anzeigen aufzunehmen. Sie registriert die Morde nicht, die Plünderungen, die Vergewaltigungen, notiert nicht die Namen derer, die von den Opfern als Täter identifiziert werden. So erscheint es fragwürdig, die gegenwärtige Gewalt als Ausdruck des gegenseitigen Hasses zweier religiöser Gruppen zu verstehen. Dies hieße nicht nur, die eklatante Asymmetrie zwischen den Gruppen, eine Asymmetrie in den Zahlen der Opfer, aber vor allem auch in der Macht, sich der Unterstützung staatlicher Instanzen zu bedienen, zu leugnen, sondern ihnen ihren systematischen, organisierten Charakter abzusprechen.

Am 28. Februar hatte die Vishva Hindu Parishad (VHP) einen Generalstreik ausgerufen; dies war auch der Aufruf zum Angriff auf die Muslime. Der regionale VHP-Präsident Keshavram Shastri gab in einem Interview zu, am selben Morgen computerisierte Listen der muslimischen Einwohner Ahmedabads angefertigt zu haben. Es waren den ersten Untersuchungsberichten zufolge die unterschiedlichen Organisationszweige der Sangh Parivar und ihre Verbündeten, die mit Lastwägen, Waffen, Benzinkanistern, den Listen muslimischer Häuser und von Unternehmen, an denen Muslime beteiligt waren, vor Ort die Pogrome organisierten und durchführten. Doch breite Bevölkerungschichten nahmen an den Ausschreitungen teil; Augenzeugen berichten, wie sich elegante Damen der Mittelklasse per Handy über die ergiebigsten Plünder-Gelegenheiten informierten. In ihren schnittigen Pajeeros transportierten die städtische Mittelklasse sowohl das Benzin für die Brandanschläge als auch das geplünderte Gut. Freilich war es noch nie ganz wahr, dass die kommunalistische Gewalt allein Sache des "Lumpenproletariats" war, wie es oft von genau dieser Mittelschicht behauptet wird. Nicht nur war es die Mittelschicht, in der die Standpunkte des Hindunationalismus zuerst Gehör fanden, wo die BJP ihre Wähler sammeln konnte. Gerade in den Hindunationalistischen Organisationen selbst sind ein Großteil der Mitglieder Angehörige der Mittelschichten. Und diese spielen eben immer wieder eine zentrale Rolle bei der Organisation kommunalistischer Ausschreitungen.

Insbesondere die Beteiligung der staatlichen Instanzen, der Polizei vor allem, die nicht eingriff, wenn Muslime um Hilfe baten, die teilweise Muslime, auch Frauen und Kinder, anstatt sie in Sicherheit zu bringen, den Angreifern auslieferte, die der Feuerwehr kein Geleit bot, um die Feuer zu löschen, die sich an den Vergewaltigungen beteiligte, hat unter den Muslimen ein Gefühl völliger Schutzlosigkeit hervorgerufen. Noch mehr hat zum Gefühl der Entrechtung die Unwilligkeit der BJP-Landesregierung Narendra Modis beigetragen, die Pogrome zu beenden, indem sie klare Anweisungen an eben diese Polizei gegeben hätte, oder die Armee, die insbesondere von den Muslimen als neutral wahrgenommen wird, eingesetzt hätte. Polizisten sind sich einig: Solche Unruhen können innerhalb von 24 Stunden unterbunden werden, wenn der politische Wille dazu da ist. Aber genau der fehlte. Im Gegenteil: Modi billigte in vielen Äußerungen die Gewalt nicht nur implizit. Auch die Zentralregierung in Delhi unter der Führung von Premierminister Vajpayee hat sich lange Zeit gelassen, bis sie sich zu kritischen Äußerungen durchrang, geschweige denn Schritte ingeleitet, um das Morden zu beenden.

"Nichts sei geschehen" heißt es immer wieder; die Berichte seien völlig übertrieben, meinte auch Ministerpräsident Modi. Ahmedabad, die Viermillionenstadt, in der die Gewalt zuerst ausbrach, sieht aus, wie Städte nach "ethnischen Säuberungen" aussehen: mitten im alltäglichen Gewusel der Stadt liegen die verkohlten Ruinen einzelner Häuser, gezielt abgebrannt oder zertrümmert. Tatsächlich geht alles seinen normalen Gang in der Stadt, wie Ministerpräsident Modi behauptet: Die Kinder gehen zur Schule, die Menschen zur Arbeit, die Universität ist offen - aber tausende leben in Flüchtlingslagern in ihrem eigenen Land und können nicht zur Arbeit oder in die Schule, weil sie damit ihr Leben riskieren würden.

72 Stunden, drei Tage hatte Modi der "verständlichen Wut" der Hindus gegeben, um sich auszutoben, der angeblich natürlichen und zwangsläufigen "Reaktion auf die Aktion": ein Pogrom als Newton‘sches Naturgesetz. Die Ausschreitungen gelten als "Reaktion" auf den Brandanschlag von ca. 2.000 Muslime auf einen Zug, bei dem 57 "Freiwillige" (kar sevaks) der hindu-nationalistischen Organisation VHP, die aus Ayodhya zurückkehrten, umkamen. Die Muslime griffen diesen Zug an - ob durch Provokationen von Seiten der Hindu-Freiwilligen angestachelt oder langfristig geplant ist ungeklärt - weil die, die darin saßen, aus Ayodhya kamen, der Stadt, in der am 15. März nach Willen der VHP ein Tempel für den Gott Ram gebaut werden sollte, der Stadt auch, in der bis zum 6. Dezember 1992 die Babri-Moschee stand, bis sie von ebensolchen Freiwilligen dem Erdboden gleichgemacht wurde, weil sie das Land beanspruchen, von dem sie behaupten, es sei der Geburtsort Rams.

Der Streit um das Land in Ayodhya schwelt seit Jahrzehnten. Das Oberste Gericht hat inzwischen jegliche religiösen Aktivitäten auf dem Gelände untersagt, bis gerichtlich geklärt sei, wem das Land rechtmäßig gehöre. Die VHP behauptet jedoch, hier ginge es um tiefste religiöse Gefühle; der Streit um das Land, der seit 50 Jahren schwelt, sei nicht gerichtlich zu entscheiden, denn was Sache des Glaubens sei, könne nicht verhandelt werden. Doch nachdem die Regierung tatsächlich das Diktum des Obersten Gerichtes durchsetzte, wurde vorerst Unverhandelbares schnell nebensächlich: Die Säulen, die die VHP für den Bau des Tempels schon herbeigeschafft hatten, wurden in einem staatlichen Lagerraum untergebracht. Die Hindu-Priester, die dem Anliegen der VHP skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen, wollten nichts mit dem Tempelbau zu tun haben und verlangten die sofortige Beseitigung der Säulen. Ayodhya ist kein Projekt der Hindus, es ist ein Projekt der Sangh Parivar, der sogenannten "Familie" von Hindu-nationalistischen Organisationen, der die VHP (Welthindurat), die RSS (Nationaler Freiwilligen Rat), und eben auch die gegenwärtige Regierungspartei BJP (Nationale Volkspartei) angehören. Der Hindunationalismus ist nur zum teil ein religiöses Projekt; er ist zuerst ein politisches Projekt, das darauf zielt, ein majoritäres Verständnis des indischen Gemeinwesens durchzusetzen und institutionell zu verankern. Hindutva, Hindutum ist ihr Programm. Damit richtet der Hindunationalismus sich nicht allein auf die Ausgrenzung derer, die nicht dazu gehören sollen, sondern auch auf eine essentialistische Bestimmung der "Mehrheit".

Die Pogrome sind zum einen ein weiteres Mittel, den Besitzanspruch auf Indien, das majoritäre Vorrecht, und die "Illegitimität" der Muslime zu behaupten - und durchzusetzen. Sie sind zum anderen ein Ausdruck davon, wie weit sich dieser Besitzanspruch schon verbreitet hat, wie selbstverständlich er für unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen geworden ist. Inzwischen kursieren Flugblätter, die zum ökonomischen Boykott von Muslimen aufrufen: Kauft nicht bei Muslimen, steht da. Ein anderes Flugblatt verkündet: "Wir werden euch alle, jeden einzelnen erwischen und umbringen. Dies ist das Versprechen der Hindusthanis. Wir werden die "Kastraten" (Schimpfwort für beschnittene Muslime) erstechen und sicherstellen, dass Flüsse von Blut fließen werden." Ein Sadhu erklärt mir in Baroda, die Muslime seien gefährlich; sie würden immer kämpfen und töten. Als ich darauf hinweise, dass auch die Hindus töteten, erwidert er stolz: "Ja, wir sind ein starkes Volk von wahren Männern." Und sogar ein Swami, ein hinduistischer Mönch, der sich einer ökumenischen Freidensmission angeschlossen hatte, erklärte mir hinter vorgehaltener Hand, die Muslime seien eben von Natur aus gewalttätig; endlich, nach Jahrhunderten der Demütigung, hätten die Hindus sich gewehrt; doch kein Hindu hätte je eine muslimische Frau vergewaltigt, denn die Hindus seien eben von Natur aus friedlich und tolerant. Nein, die Muslime selbst hätten ihre Frauen vergewaltigt. Und die Opfer seien in der Mehrzahl Hindus.

Die Vorstellung, die Hindus seien als Opfer muslimischer Aggression hat sich weit verbreitet. Im Verteidigungsdiskurs wird die Notwehr quasi kollektiviert: jeder Muslim wird zum Sinnbild der Bedrohung, und so kann der Angriff auch auf einzelne, wehrlose Muslime über die Notwehr gerechtfertigt werden. 120 Millionen Muslime leben in Indien; der Islam ist seit Jahrhunderten Teil der indischen Kultur. Doch heute wird allein die Präsenz der Muslime als invasorischer Akt gedeutet, als Fortsetzung der Eroberung durch den Begründer der Moghul-Dynastie Babur. Der Ruf "Wehrt euch, Hindus" knüpft an diese Geschichtsdeutung an. So steckt im Verteidigungsdiskurs auch immer der majoritäre Besitzanspruch auf ein Indien, das allein den Hindus gehöre. Durch die Allgegenwart der hindunationalistischen Symbolik und ihrer Interpretationsschemata, sind diese vom politischen Projekt gelöst worden und haben die Aura des Natürlichen gewonnen. Die Vorstellung, Indien sei das Land der Hindus, und alle anderen genössen darin höchstens Gastrechte, gewinnt zunehmend an Selbstverständlichkeit. Der Wandel vom republikanischen Gedanken zur majoritären Konzeption von Berechtigung breitete sich nicht allein durch die wachsende parlamentarische Repräsentation des Hindunationalismus aus. Vielmehr gelang es den Hindu-nationalistischen Organisationen über ihr breites Netzwerk lokaler Vereine, ihre Visionen zu "normalisieren".

In den Dörfern Gujarats ist die Saat aufgegangen. Hier sei jetzt Frieden, sagt Harish. Die Muslime wären weg und man würde nicht zulassen, dass sie je zurück kehrten. Es sei Zeit gewesen, dass man ihnen eine Lehre erteilt hätte. Aus dem ganzen Land müsse man sie vertreiben, denn dies sei das Land der Hindus.

Als die ökumenische Friedensmission die Flüchtlingslager besucht, erwidern ihr die Muslime verzweifelt: "Wie könnt ihr zu und von Frieden sprechen. Diese Gesellschaft will uns umbringen, ausrotten, und ihr kommt zu uns, um Frieden zu verkünden." Die Angst steht in den Gesichtern der Frauen geschrieben: Sie wissen, dass sie nicht dorthin zurückkehren können, wo sie gelebt haben, und von ihre Nachbarn sie vertrieben haben. Und sie fragen sich, welcher Ort noch für sie sicher ist. Und so mehren sich die Stimmen unter den Muslimen, die sagen, sie wollten lieber im Kampf sterben, als sich hilflos abschlachten zu lassen. Sie würden ein gewisses Maß an Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit Indiens wiedergewinnen, wenn die Zentralregierung sich dazu entschliessen könnte, den Ministerpräsidenten von Gujarat, Narendra Modi abzusetzen und ihn für die Gewalt zur Verantwortung zu ziehen.

Quelle: Der Text erschien im Original in der Frankfurter Rundschau.

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