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29. August 2015. Analysen: Politik & Recht - Afghanistan Weiter entfernt vom Frieden denn je?

Zur aktuellen Gemengelage in Afghanistan

Die Bemühungen um eine dauerhafte Befriedung und Demokratisierung Afghanistans scheinen fast 14 Jahre nach dem Sturz des Talibanregimes gescheitert. Im Mai und Juli diesen Jahres kam es zu überraschenden Gesprächen zwischen afghanischen Regierungsvertretern und Taliban in China und Pakistan, die allerdings mit der Nachricht über Tod des Taliban-Führers Mullah Omar ihr vorläufiges Ende fanden. Parallel zu Offensiven und symbolträchtigen Terroranschlägen bekämpfen sich im islamistischen Lager mehrere Fraktionen und liefern sich einen blutigen Wettlauf um die Vorherrschaft.

Der Sommer 2015 in Afghanistan wurde durch ein merklich erhöhtes Ausmaß an terroristischer Gewalt und offenen Gefechten geprägt. Seit dem Start der Frühjahrsoffensive der Taliban wird in 26 von 34 Provinzen Afghanistans gekämpft. Der Fall der nördlichen Provinzhauptstadt Kunduz, aus der die deutsche Bundeswehr im Oktober 2013 abzog, konnte bislang nur mit großer Mühe verhindert werden. Es wäre die erste Großstadt in Hand der Taliban. Vielleicht wollen sie somit die Taktik des Islamischen Staates (IS) im irakischen Mossul adaptieren und hoffen auf die Eroberung schwerer Waffen sowie einen Dominoeffekt. Allerdings erweist sich bisher die Afghanische Nationalarmee (ANA) schlagkräftiger als befürchtet und konnte etliche Distrikte, aus denen sie vertrieben worden war, zurückerobern. Jedoch ist sie weniger mobil als die Talibaneinheiten und im Bereich der Luftwaffe und des Truppentransports per Hubschrauber massiv auf die Hilfe vonseiten der internationalen Truppen angewiesen. Ein Risiko stellen außerdem die lokalen Milizen dar, deren Loyalität von ihrer Bezahlung, ethnischer Zugehörigkeit und der Gefolgschaft gegenüber Warlords abhängt.

Die deutsche Bundeswehr ist noch immer vor Ort, denn im Rahmen der Operation Resolute Support sind derzeit 698 Angehörige der Bundeswehr im Norden Afghanistans und 110 in Kabul stationiert. Aufgrund der Sicherheitslage kündigte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf dem NATO-Ministertreffen im Juni an, dass das deutsche Ausbildungs- und Unterstützungskontingent nun erst im Jahr 2016 vom Norden nach Kabul verlegt wird. In Afghanistan sollen sich nach der Entführung einer deutschen Entwicklungshelferin in Kabul Mitte August nur noch gut zwei Dutzend deutsche Entwicklungshelfer aufgehalten haben, während rund 1.700 Ortskräfte für deutsche Entwicklungsorganisationen tätig sind.

Fortgesetzte Anschlagsserie

Wiederholt wird auch die Hauptstadt Kabul Ziel von Anschlägen, wobei Selbstmordkommandos insbesondere Einrichtungen der Regierung, der afghanischen Sicherheitskräfte und der Armee attackieren. Diese Anschläge folgen in der Regel einer blutigen Choreografie von einer oder mehreren starken Bombenexplosionen und einem anschließenden Überfall von Kämpfern mit Schusswaffen sowie Sprengsätzen. Der hohe Anteil von Unbeteiligten unter den Opfern wird dabei anscheinend von den Angreifern in Kauf genommen, um die Schwäche und Verwundbarkeit des afghanischen Staates aufzuzeigen.

Kurz nach Beginn der Parlamentssitzung am 22. Juni diesen Jahres manifestierte sich das Ausmaß der Bedrohung in einem besonderen Maße, als die Explosion einer Autobombe das Parlamentsgebäude in Kabul erschütterte. In der im Fernsehen live übertragenen Sitzung brach Chaos aus, Rauch füllte den Saal, Schreie und Schüsse waren zu hören. Es sollte eigentlich der große Tag des designierten afghanischen Verteidigungsministers Mohammed Masoom Stanikzai werden, der seine Antrittsrede vor den Abgeordneten halten wollte. Doch statt dem geplanten Auftritt, der einen deutlichen Schlussstrich unter das fast neunmonatige Zerren um die Besetzung des wichtigen Ministerpostens ziehen und geeinte Stärke darstellen sollte, zeigte es sich, dass selbst die Hochsicherheitszone nur trügerischen Schutz bietet. Wie die sieben Attentäter trotz mehrerer Checkpoints im Viertel so nah ans Gebäude gelangen konnten, ist ungeklärt.

Die afghanischen Sicherheitsbehörden vermuten das so genannte Haqqani-Netzwerk hinter dem Anschlag. Es ist zwar mit den afghanischen Taliban verbündet, ist jedoch im Gegensatz zu ihnen auch in den pakistanischen Stammesgebieten militärisch aktiv, da seine Kämpfer vorrangig aus lokalen paschtunischen Clans im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet stammen.

Umstrittene Gesprächsversuche zwischen Afghanistan und Taliban

Dass der Anschlag auf das Parlamentsgebäude sich gerade kurz vor der Rede des zukünftigen Verteidigungsministers Stanikzai ereignete, könnte zudem einen Grund in Taliban-internen Streitigkeiten haben. Denn der paschtunische Politiker, der bisher dem Hohen Friedensrat vorsaß, soll sich in diesem Mai in Ürümqi in der Nordwestchinesischen Provinz Xinjiang zu Gesprächen mit drei Vertretern der so genannten Quetta-Shura getroffen haben. Offiziell lehnen die Taliban Verhandlungen mit Vertretern der afghanischen Regierung, die sie in ihren Statements gerne als "Sklaven der Amerikaner" bezeichnen, ab. Das Treffen soll der pakistanischen Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) organisiert haben. Es gilt als offenes Geheimnis, dass sich Pakistan unter anderem mithilfe der im Jahr 2001 dorthin geflüchteten Talibanführung in die Belange Afghanistans einmischt. Die pakistanische Regierung und hochrangige Militärs hatten dem afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani jedoch mehrfach seit seinem Amtsantritt im Herbst 2014 aktive Vermittlungsbemühungen versprochen.

Die Wahl eines Ortes in der VR China, zumal in der muslimischen Provinz Xinjiang, in der Teile der turkstämmigen Bevölkerungsgruppe der Uighuren ihrerseits gegen die kommunistische Regierung opponieren, mag ungewöhnlich wirken. Allerdings verfolgt die Volksrepublik eine zunehmend aktive Diplomatie in der Region, da sie ein starkes Sicherheitsinteresse an Afghanistan als auch Zentralasien hat. Ein wichtiger Baustein ist dabei die so genannte Allwetter-Freundschaft mit Pakistan. Gleichfalls plant Peking seit dem letzten Jahrzehnt große Investitionen im afghanischen Rohstoffsektor und hat sich dafür bereits Schürfrechte gesichert, wobei es mitunter in Konkurrenz zu indischen Investoreninteressen steht.

Für die pakistanische Seite hat Ürümqi als Gesprächsort den Vorteil, dass sie dort weitgehend abgeschirmt tagen können, die chinesische Seite offenbar gerne ihrer Expertise vertraut und sich selbst im Hintergrund hält. So behalten die Vertreter Islamabads gezielt Einfluss – anders als bei den Gesprächen in Katar, im Iran und Norwegen. Zudem besteht bei diesen Treffen die Möglichkeit hochrangige Talibanvertreter direkt einzubinden. Denn bislang sah man sich bei Verhandlungen meist gezwungen, auf teils seit vielen Jahren im Exil weilende Mittelsmänner mit bisweilen fragwürdigem Ruf zurückzugreifen, welche aus ihren angeblich sehr guten Beziehungen in die "alte Heimat" Kapital zu schlagen verstehen.

Taliban ohne Mullah Omar, Richtungsstreit und Konkurrenz seitens des ISK

Um den Ürümqi-Prozess weiterzuführen, sollen in diesem Juli Vertreter der Kabuls und der Taliban noch zweimal in der pakistanischen Hill Station Murree zu vorbereitenden Gesprächen getroffen haben. Allerdings scheint dies am 29. Juli ein jähes Ende gefunden zu haben, als der afghanische Geheimdienst NDS die Nachricht lancierte, dass Taliban-Führer Mullah Omar schon im Jahre 2013 verstorben sei, was die Taliban tags darauf bestätigten. Der neue oberste Taliban Mullah Akhter Mansoor, der wie Mullah Omar aus der Provinz Kandahar stammt, meldete sich Anfang August erstmals in einem Statement zu Wort. Darin schlug er betont unversöhnliche Töne gegenüber Kabul und den verbündeten USA an. In den folgenden Tagen ereigneten sich mehrere schwere Anschläge in Kabul und anderen Städten für welche die Taliban die Verantwortung übernahmen. Sein Führungsanspruch scheint jedoch seitens kleinerer Taliban-Fraktionen und dem familiären Umfeld Mullah Omars umstritten zu sein, weshalb er sich vermutlich deutlich kämpferisch gibt, um diese auf seine Seite zu ziehen. Zudem haben die Taliban seit einiger Zeit radikal-islamistische Konkurrenz in Form eines lokalen Ablegers des Islamischen Staates (IS) gefunden.

Vehement verteidigen die afghanischen Taliban bislang ihren Führungsanspruch in der Region gegenüber dem IS. In einem offenen Brief der Taliban-Führung an Abu Bakr al-Baghdadi, betonten sie zwar die "religiöse Brüderlichkeit" aber "baten" zugleich den IS sehr deutlich, sich nicht in die Angelegenheiten in ihrem Bereich einzumischen. Nachdem einige kleinere Taliban-Fraktionen Ende letzten Jahres dem IS ihre Gefolgschaft schworen, sind die Taliban erfolgreich gegen diese Abspaltungen vorgegangen. Aber in der afghanischen Provinz Nangarhar mit der wichtigen Khyber-Pass-Fernstraße, die Kabul mit der pakistanischen Großstadt Peshawar verbindet, bekämpfen sich noch immer Taliban und die Anhänger des Islamischen Staats in Khorasan (ISK). Dabei kann die neue Taliban-Führung nun auf alte Verbündete setzen – Mitte August bestätigte al-Qaida-Führer Ayman al-Zawahiri seine Unterstützung für Mullah Mansoor.

Gegenüber der Islamische Bewegung Usbekistans (IMU) und mehreren kleineren Gruppen, welche sich dem IS offiziell unterstellt haben, lassen die Taliban dagegen pragmatische Milde walten – solange diese sich zu ihrer Allianz mit den Taliban bekennen. Die IMU und ihre Verbündeten scheinen eine stärkere Anziehungskraft auf tadschikische, usbekische und turkmenische Kämpfer aus Afghanistan und den Ländern Zentralasiens auszuüben als die traditionell paschtunisch-dominierten Taliban. Dem pakistanischen Autoren und Taliban-Experten Ahmed Rashid zufolge kooperieren die Taliban mit ihnen vorrangig im Norden Afghanistans, wo diese Gruppen in den Grenzprovinzen zu Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und der VR China aktiv seien und einen regen Zulauf an ausländischen Kämpfern genössen. Inzwischen hätten sich bis zu 5.000 Zentralasiaten, darunter auch Uighuren, Kasachen und Kirgisen ihnen angeschlossen. Rashid warnt vor einem Übergreifen der Kämpfe auf das angrenzende Tadschikistan.

Schwierige Zeiten, große Herausforderungen

Besteht also Grund zu Pessimismus bezüglich der Zukunft Afghanistans und der angrenzenden zentralasiatischen Region? Zurecht sind viele Afghanen gegenüber Verhandlungen mit den Taliban skeptisch. Zudem scheint derzeit ein Dialog aufgrund der Machtkämpfe innerhalb der Taliban und der durch Hardlinertum geförderten Gewalt unwahrscheinlich. Soll man später gegebenenfalls trotzdem wieder verhandeln, weitgehende Zugeständnisse machen und sie an der Macht beteiligen, um Schlimmeres zu verhindern? Vielleicht ließen sich zumindest einige verbündete Kämpfer der Taliban im Zuge der Machtkämpfe "umdrehen", das übliche harte Vorgehen gegen Abtrünnige dürfte dies jedoch erheblich erschweren.

Die Bewegung der sogenannten Koranschüler (talib) hat an Strahlkraft eingebüßt, nur wenige Menschen dürften sich eine Rückkehr der Lebensbedingungen zu Zeiten des Talibanregimes wünschen. Die Taliban-Kämpfer haben vor allem ihr Saubermannimage verloren, sie gelten inzwischen als nicht weniger korrupt als andere Milizen. Sie drangsalieren die Bevölkerung in ihren Einflussgebieten mit willkürlicher Gewalt, sie erpressen, rauben, schikanieren und terrorisieren. Viele Kämpfer sind drogenabhängig und unberechenbar – und unterscheiden sich damit nicht von den Söldnern anderer Warlordmilizen.

Der Versuch, mit einem massiven militärischen Aufgebot ausländischer Armeen Afghanistan zu befrieden, ist kläglich gescheitert. Doch jetzt, nach diesem Scheitern, käme es darauf an, die Menschen Afghanistans nicht wieder alleine zu lassen. Die einstigen ISAF-Truppen haben über 3.000 Tote zu beklagen, für militärische Fehlentscheidungen haben indes hauptsächlich die Afghanen den Blutzoll bezahlt. Warlords wurden im Anti-Terror-Kampf wiederbewaffnet und müssen sich bis heute kaum je der Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen stellen. Hinzu kommt, dass die Nachbarstaaten, allen voran Pakistan und Indien, sich massiv gemäß ihrer eigenen strategischen Interessen einmischen und gegenseitig bekämpfen.

Milliarden Euro an Hilfs- und Wiederaufbaugeldern sind in dunkle Kanäle abgeflossen, einige Menschen konnten sich dank mangelnder Kontrolle und systematischen Fehlern in der Entwicklungszusammenarbeit bereichern. Es gibt Massen von "Geister-Lehrern" und "Geister-Polizisten" auf den Gehaltslisten.

Gleichwohl hatte Afghanistan in den vergangenen Jahren in vielen Landesteilen verhältnismäßig friedliche Zeiten erlebt, einen zarten wirtschaftlichen Aufschwung erfahren und eine lebendige Medienlandschaft hervorgebracht. Afghanistan wird noch lange von ausländischer Unterstützung abhängig sein. Sehr wahrscheinlich wird auch das militärische Engagement des Auslands weitergehen. Ohne diese Hilfe droht der Zusammenbruch des Staates.

Wenn es gelänge, die demokratischen Strukturen und öffentliche Kontrollmechanismen zu stärken, ließen sich Korruption und Machtmissbrauch besser bekämpfen und dringend benötigte Investitionen könnten realisiert werden. Die afghanische Bevölkerung hat mehrfach ihren Mut und Willen für demokratische Akte trotz massiver Bedrohungen bewiesen – erinnert sei zum Beispiel an die Menschen, denen die Taliban nach der Stimmabgabe ihre mit Tinte markierten Fingerglieder abschnitten. Doch nach fast vier Jahrzehnten Krieg scheint der Teufelskreislauf der Gewalt lange noch nicht durchbrochen.

 

Quelle: Dieser Artikel erschien auch im Heft 3-4/2015 der Zeitschrift Südasien.

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