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12. Juli 2001. Analysen: Kunst & Kultur - Indien Ayurveda

Traditionelle indische Medizin

Ayurveda ist ein ganzheitliches Medizinsystem, welches seinen Ursprung in den vedischen Schriften hat. Ayu bedeutet im Sanskrit Leben und Veda bedeutet Wissen, also ist Ayurveda die Wissenschaft vom Leben.

Susruta, der Verfasser eines bedeutenden Ayurvedischen Werkes, schreibt, dass Gott Brahma noch bevor er die Welt erschuf, das Ayurveda hervorbrachte. Er übergab dieses Wissen letztlich Indra, dem König der Götter, der es an die Menschen weiterreichte, damit sie ein langes und glückliches Leben führen könnten.

Worin besteht denn nun eigentlich die Faszination des Ayurveda? Warum besteht es seit Jahrtausenden fort? Das Ayurveda erlebt zur Zeit in Indien eine Renaissance und gewinnt auf der ganzen Welt immer mehr Anhänger. Seine Attraktivität liegt im wesentlichen darin begründet, dass die ayurvedische Medizin einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt. Das heißt, das Ayurveda zielt nicht nur auf die Heilung von Krankheiten, sondern auf ihre Vorbeugung durch eine gesunde Lebensführung. In die Diagnostik und die Therapie werden die Lebensweise, Ernährungsweise, das soziale Umfeld, das seelische Leben und die Konstitution eines Menschen mit einbezogen.

Diese Konstitution, pakriti, wird durch individuell unterschiedlich starke Anteile von drei biologischen Kräften bestimmt, den drei Dhoshas. Diese Dhoshas sind Vata, der Wind, als die energetische Kraft, Pitta, das Feuer, als die wärmeerzeugende Kraft und Kapha, das Wasser, als die zusammenhaltende Kraft. Sie stehen symbolisch für die drei göttlichen Prinzipien, welche durch die Gottheiten Shiva , Vishnu und Brahma verkörpert werden. Während Shiva im Makrokosmos die Kraft der Zerstörung ist, steht dafür stellvertretend im Mikrokosmos Mensch die Kraft Vata. Vishnu, der Erhaltung und Umwandlung versinnbildlicht, wird wiedergegeben durch Pitta und für Brahma, den Schöpfer steht Kapha. Die unterschiedliche Zusammensetzung dieser Kräfte bestimmt nach dem Ayurveda die Individualität eines Menschen, seine Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten und seine Stärken. Dieses ist einer der primären Gedanken des Ayurveda.

Jedoch kennt die ayurvedische Medizin auch das Spezialistentum. Sie ist in acht Subspezialitäten eingeteilt, wie die Innere Medizin (Kayacikitsa), die Chirurgie (Salyatantra), die Augen und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (Salakyatantra), die Kinderheilkunde und Geburtshilfe (Kaumarabhrtaya), die Toxikologie (Agadatantra), die Psychiatrie (Bhutavidya), die Wissenschaft von der Verjüngung (Rasayana) und die Wissenschaft von den Aphrodisiaka (Vajikarana). Gerade die letzten beiden Disziplinen verdeutlichen den Stellenwert des Ayurveda auch für den gesunden Menschen. Die ayurvedische Heilkunst bekämft also nicht nur eine isolierte Krankheit, sondern zielt auf alle Aspekte des Lebens. Durch eine ayurvedische Lebensführung wird ein langes, glückliches und reiches Leben im Einklang mit sich und seiner Umgebung erreicht, das durchschnittlich hundert Jahre währt.

Das Studium des Ayurveda erfolgt zu großen Teilen in Sanskrit in eigenen ayurvedischen Universitäten und dauert sechs Jahre. Im ersten Jahr erwirbt der Student Kenntnisse der Geschichte und Philosopie der ayurvedischen Medizin.

Hier sind drei wesentliche Werke von Bedeutung: Das Charaka Samitha, das älteste ayurvedische Werk, welches vermutlich 1500 Jahre v.Chr. zusammengestellt und im 1. Jahrhundert v.Chr. von Charaka niedergeschrieben wurde. Es beschäftigt sich mit den Grundlagen und mit den nicht invasiven Aspekten des Ayurveda. Das zweite bedeutende Werk Susruta Samitha stammt aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. Sein Autor Susruta beschäftigt sich vorwiegend mit chirurgischen und orthopädischen Fragen, daher gilt er auch als Vater der Chirurgie. Das dritte Werk ist das Astanga Hrdaya von Vagbhata aus dem siebten Jahrhundert n.Chr. Es ist im wesentlichen eine Überarbeitung und Zusammenfassung der ersten beiden.

Im zweiten Studienjahr erfolgt das Studium der Anatomie an Hand von Sektionen und das Studium der Physiologie. Im dritten Jahr lernt der Student im Krankenhaus u.a. die ayurvedische Pulsdiagnostik und damit einhergehend die Bestimmung der drei Dhoshas Vata, Pitta und Kapha, die ayurvedische Pharmakologie, das Wissen über die individuell richtige Ernährung, den Lebensstil und das richtige Verhalten sowie Therapieanwendungen, wie z.B. das Panchakarma. Er erlernt das Herstellen von Medikamenten, die sehr individuell auf die erkrankte Person abgestimmt werden. Im vierten und fünften Jahr werden die vorher erlernten Grundlagen vertieft und die einzelnen Fachgebiete studiert. So werden auch chirurgische Fertigkeiten trainiert. Erst im sechsten Jahr diagnostiziert und behandelt der angehende Arzt unter Aufsicht von erfahrenen Kollegen den Patienten. Er erwirbt dann seine Abschlussqualifikation: den Bachelor of Ayurved Medicine and Surgery (B.A.M.S.). Das Studium ist also recht umfangreich.

Demgegenüber ist der Trend in europäischen Ländern, wo viele sogenannte ayurvedische Behandlungen von Unqualifizierten offeriert werden, sehr bedauerlich. Hier fehlt es noch an den Qualitätsstandards.

Sehr gut bewährt hat sich die ayurvedische Medizin in der Behandlung von chronischen Leiden. Ayurvedische Therapeutika finden mittlerweile auch Einsatz in die Schulmedizin. Als Beispiel sei hier erwähnt der indische Weihrauch (Boswellia serrata), als Medikament für Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis. Die Samenschalen des indischen Spitzwegerichs (Plantago ovata) finden Verwendung in der Behandlung von Erkrankungen des Verdauungsapparates und die Produkte des Neembaumes dienen u.a. als ein pflanzliches Antiseptikum mit antimykotischen und antibakteriellen Eigenschaften.

Das jahrtausendealte Ayurveda ist zum einen der traditionellen indischen Medizin zuzurechnen und zugleich auch hochmodern. Es ist in Indien und anderswo ein lebendiges, sich dynamisch weiterentwickelndes, ganzheitliches Medizinsystem, das diese Bezeichnung auch wirklich verdient.

Quelle: Dieser Text erschien im Original in: Fragen zu Indien? Eine Sonderausgabe des Informationsheftes der Deutsch-Indischen Gesellschaft Berlin mit Einführungen in ausgewählte Sachgebiete, hrsg. von der DIG Berlin, Juni 2001, S.14-16

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