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11. November 2006. Analysen: Geschichte & Religion - Südasien Konversion und Rekonversion im Hinduismus

Die Entwicklung der Shuddhi-Bewegung als Antwort auf die empfundene Angst vor der Islamisierung Indiens

"Save the Dying Race" - das Schlagwort des frühen 20. Jahrhunderts als Ausdruck der hinduistischen Angst vor dem Aussterben der eigenen Religion behielt seine Bedeutung bis in die Gegenwart. Wobei zu beachten ist, dass hier aus Sicht der Hindunationalisten, Hindu zu sein nicht nur die Zugehörigkeit zu dieser Religionsgruppe bedeutet, sondern auch die Zugehörigkeit der Hindus zu einer ‚Rasse’, die sich genealogisch ihrer Ansicht nach auf die Abstammung von den vor hunderten von Jahren nach Indien eingewanderten Aryas beriefen und auch heute noch berufen. Eine Reaktion auf dieses Angstpotential stellte die Erfindung einer neuen Tradition auf Basis eines alten religiösen Reinigungs-Rituals, Shuddhi, durch dessen aktiv betriebene Bedeutungsveränderung dar. Dieser Artikel untersucht die Entstehung und Wandlung der Shuddhi-Bewegung vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Entwicklung Indiens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, von der innerhinduistischen Reformbewegung zur effektiven Waffe gegen die wahrgenommene Ausbreitung von Christentum und Islam. Hierbei wird die Funktion des Shuddhi-Rituals bei der Identitätsfindung als Reaktion auf westliche Kulturkritik ebenso berücksichtigt, wie seine Instrumentalisierung bei der politischen Mobilisierung.

Auf Grund dessen kann für den Begriff Shuddhi keine einheitliche Definition gegeben werden, sondern er muss je nach Phase seiner Entwicklung neu betrachtet, das heißt neu definiert werden. Dies beginnt mit seiner ursprünglichen Bedeutung, einem alten brahmanischen Reinigungsritual, über dessen Erweiterung im frühen 19. Jh. und führt zur Erfindung der neuen Tradition eines Rekonversionsrituales für vom Hinduismus ‚Abgefallene’ und damit auch zur Möglichkeit der aktiven Konversion Andersgläubiger. Von dieser interreligiösen Konversionszeremonie ausgehend kam es durch eine nochmalige Bedeutungserweiterung zur Intention, den sozialen Aufstieg für Unberührbare zu ermöglichen, die bisher aus der indischen Gesellschaft de facto ausgeschlossen waren, um auf diese Weise die festen gesellschaftlichen Schranken des indischen Kastensystems aufbrechen zu wollen.

Dieser Artikel beschäftigt sich vornehmlich mit der Entstehung und ersten ,heißen’ Phase dieses Konversionsrituals, vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, doch dieses Thema hat an Aktualität nicht verloren. Auch heute noch entfacht sich immer wieder eine heftige Debatte, oft begleitet von Unruhen, wenn Zahlen muslimischer Missionserfolge bekannt werden.

Auf zahlreichen Internetseiten entsteht der Eindruck, dass die scheinbare Angst vor dem Aussterben der eigenen ‚Rasse’ und Religion weiterhin besteht und die Gefahr einer drohenden Islamisierung Indiens empfunden wird. Foren wie zum Beispiel Crusadewatch.com, Hinduunity.org oder Hinduweb.org zeigen Verluste und Zugewinne der Anzahl gläubiger Hindus und rufen zu Spenden für hinduistische Missionskampagnen auf. Inwieweit diese Seiten reale Fakten darstellen oder aber mit Ängsten und Emotionen spielen, bleibt Gegenstand weiterer Forschungen.

Fremdherrschaft und Identitätsfindung

Die britische Kolonialherrschaft in Indien und der damit verbundene kulturelle Austausch, der sich auf britischer Seite unter anderem durch Kritik an den Grundfesten des Hinduismus äußerte, rief unter der gebildeten Oberschicht Indiens eine Identitätskrise hervor, die über viele Jahrzehnte anhielt. Auf Grund dessen setzten sich viele Hindus in verstärktem Maße mit ihrer eigenen Geschichte und Kultur auseinander, was unter anderem zur Entstehung der so genannten ‚Hindu-Renaissance’ führte.

Die große Anzahl an Eingriffen in religiöse Angelegenheiten der Hindus, wie zum Beispiel die Erlaubnis der Missionstätigkeit christlicher Kirchen im Jahr 1813, das Verbot der Witwenverbrennung 1829, die Erlaubnis ihrer Wiederverheiratung, sowie die Zugestehung des Erbrechtes für Witwen, um nur einige zu nennen, führten zu einer weiteren Verstärkung dieser Identitätskrise.

Wie das Wort Renaissance im europäischen Kontext Rückbesinnung auf die Antike bedeutet, so heißt es im Fall Indiens Rückbesinnung auf das ‚Goldene Zeitalter’ der vedischen Kultur und schließt explizit den Zeitraum der muslimischen Herrschaft aus. Seit 1206 gab es, beginnend mit dem Sultanat von Delhi, eine erste dauerhafte islamische Regierung in weiten Teilen Indiens, die mit Einschränkungen bis zum Beginn der britischen Kolonialherrschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jh. andauerte. Deshalb beschäftigten sich die daraufhin vielfältig entstehenden hinduistischen Reformbewegungen vornehmlich mit der Rückführung des Hinduismus auf seine angenommene ursprüngliche Form und dessen vermeintliche Blütezeit im indischen Altertum.

Die durch Christentum, Islam und britische Kolonialherrschaft verstärkt hervorgerufene Kritik an kulturell-religiösen Aspekten des Hinduismus verursachte in seinen Reformbewegungen ein Bestreben nach Reinigung von späteren, im 19. Jh. durch die Teile der Hindugesellschaft als negativ empfundenen, Hinzufügungen, wie zum Beispiel Witwenverbrennung, Kinderheirat oder dem Verbot der Wiederverheiratung von Witwen. Wie am Beispiel der Bewegung des Arya Samaj und dessen Shuddhi-Bewegung deutlich wird, rief diese kulturelle Auseinandersetzung wiederum die Erfindung neuer Traditionen, wenn auch unter Verwendung eines alten Rituals, und somit neue Hinzufügungen hervor.

Das alte Shuddhi-Ritual und Veränderungen zu Beginn des 19. Jh.

Das Sanskritwort Shuddhi bedeutet Reinigung oder Zustand der Reinheit und ist einer der ältesten und zentralsten Bestandteile der Hindutraditionen.[1] Dieses brahmanische Reinigungsritual, das nach ritueller Verschmutzung oder unreinen Tätigkeiten angewendet wurde, ist von grundlegender Bedeutung für die soziale Interaktion mit Kastengleichen und für die Durchführung religiöser Zeremonien.[2] Die Notwendigkeit seiner Anwendung konnte durch eine Vielzahl von Ursachen entstehen. Dies betraf hauptsächlich Geburt und Tod sowie den Kontakt mit rituell ‚unreinen’ Materialien oder Personen.[3]

Seine erstmalige Bedeutungserweiterung erfuhr dieses Ritual durch die veränderten Möglichkeiten, die das frühe 19. Jh. bot. Es wurde hauptsächlich angewandt, um gesellschaftlich hochrangige Hindus, vor allem Brahmanen, in ihre Kaste zu reintegrieren. Die Überquerung des als schwarzen Wassers, kala pani, bezeichneten Meeres, also eine Reise nach Übersee und der Aufenthalt in fremden Ländern, galten generell als Verschmutzung. Um bei der Rückkehr nach Indien wieder als vollwertiges Mitglied der eigenen Bruderschaft, biradris, zu gelten, musste eine Reinigungszeremonie vollzogen werden.[4] Andernfalls war die soziale Interaktion mit Kastengleichen ausgeschlossen. Sie galten als ausgestoßen und Kontakt mit ihnen hätte zur ‚Verunreinigung’ ihrer Bruderschaft geführt.[5]

Die Notwendigkeit eines Konversionsrituals

Zuerst muss beachtet werden, dass der Hinduismus im Vergleich zu anderen großen Religionen nicht über die Möglichkeit verfügte, neue Mitglieder in seine Glaubensgemeinschaft aufzunehmen, die zuvor anderen Religionen angehört hatten. Er hatte nicht die Möglichkeit der Mission und die Religionszugehörigkeit zum Hinduismus definierte sich einzig und allein durch Geburt.

Die Ursache für die Entwicklung der neuen Tradition lag vor allem in der Auseinandersetzung mit Christen und Muslimen im Nordwesten Indiens, hauptsächlich im Punjab, denn dort bildeten Hindus im 19. Jh. die Bevölkerungsminderheit. Gerade in diesem Gebiet Indiens setzte jedoch unter der britischen Kolonialherrschaft eine starke christliche Missionstätigkeit ein. So begann zum Beispiel im Punjab die American Presbyterian Mission im Jahr 1834 ihre Tätigkeit, gefolgt von der Church Missionary Society (1854) und der Church of Scottland (1855).[6] Ihre Missionsarbeit unterstützten sie durch die Gründung von Schulen und Verlagen, die für eine schnelle und weiträumige Verbreitung von christlichem Gedankengut Sorge trugen.

Ihre große Bedeutung erhielten diese Aktivitäten für die Hindus durch den von der britischen Verwaltung im Jahr 1871 eingeführten Zensus. Auf diese Art und Weise erhielt nicht nur die Kolonialmacht erstmals einen Überblick über die Zusammensetzung der Bevölkerung, sondern auch die Hindus sahen erstmalig, wie sich die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Religionsgruppen verhielt und welche Veränderungen die Missionstätigkeit von Christen und Muslimen hervorrief. Die Volkszählung kann als der Anfang einer Bewusstseins- und Identitätsfindung der indischen Gesellschaften und damit auch der Hindus als gesellschaftlicher Gruppe verstanden werden.[7]

Der alle zehn Jahre durchgeführte Zensus zeigte 1891 Verschiebungen in den Religionszugehörigkeiten auf. Es zeichneten sich prozentuale Zuwächse bei dem Anteil von Christen an der Bevölkerung ab, wenn diese auch in absoluten Zahlen betrachtet eher unbedeutend waren im Vergleich zur riesigen Bevölkerungsmehrheit der Hindus. Der Anteil der Christen war im Punjab innerhalb von 10 Jahren um 410 Prozent[8] oder, nach anderen Quellen, von 4.000 auf 19.000 Menschen angestiegen.[9]

Die Volkszählung rief unter den Hindus eine den tatsächlich bestehenden Bevölkerungsverhältnissen nicht entsprechende Angst hervor, eines Tages landesweit selbst die Minderheit in einer überwältigenden Mehrheit von Christen und Muslimen zu sein und in endgültiger Konsequenz sogar auszusterben.

Die zu diesem Zeitpunkt in der Presse aufkommende und bis heute immer wieder vorkommende Forderung, "Save the Dying Race" rief den Wunsch nach "einer Art Taufe"[10] zur Schaffung eines gestärkten Hinduismus hervor, der dadurch in die Lage versetzt werden sollte, sich gegen die vermeintlichen Angriffe des Christentums und des Islams zu behaupten.

Dayanand Sarasvati und die Idee der Shuddhi als Verteidigung gegen Christen und Muslime

Eine der bedeutendsten und größten hinduistischen Reformbewegungen war der von Dayanand Sarasvati[11] 1875 gegründete Arya Samaj, der später eine führende Rolle in der Shuddhi-Bewegung einnehmen sollte. Für ihren Gründer spielte eine aktive Shuddhi-Tätigkeit nur eine untergeordnete Rolle. Er sah seine Aufgabe vielmehr darin, den Hinduismus in seiner Gesamtheit zu reformieren und auf seine ursprüngliche Form, die des idealisierten indischen Altertums, zurückzuführen. Hierbei lag das Augenmerk nicht nur auf der Bekämpfung der ‚Übel des Hinduismus’, wie Kinderheirat und Kastengesetze, sondern vor allem in der Rückbesinnung auf die Veden als Textgrundlage sowie auf das in ihnen enthaltene Wissen. Sie waren für ihn nicht nur die Grundlage allen religiösen Wissens und der daraus abzuleitenden Lebensweise, sie enthielten, so die Überzeugung Sarasvatis, ebenso sämtliches Wissen über die Neuerungen der Zukunft, da alles was geschieht bereits vorherbestimmt sei.[12]

Durch seine Auseinandersetzung mit dem Christentum und vor allem dem Islam, in dessen Religion er Bigotterie und zwei verschiedene Moralsysteme, eines für Muslime und ein untergeordnetes für alle Andersgläubigen[13] sah, entwickelte er seine Vorstellung des "Shuddhi als Verteidigungswaffe gegen die islamische Bedrohung".[14] Sein Konzept der Shuddhi beschäftigte sich daher mit der Rückgewinnung von Personen, die zuvor vom Hinduismus abgefallen waren. Es ist somit als ein Konzept der Rekonversion zu verstehen, da es nur auf als Hindus Geborene anwendbar war.

Eine Ausweitung darüber hinaus, das heißt auch auf bereits in vorherigen Generationen vom Hinduismus abgefallene, setzte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Auf Grund der geringen Bedeutung der Shuddhi-Tätigkeit für Dayanand Sarasvati sind aus seinem Leben auch nur wenige Beispiele überliefert, in denen er eine solche Zeremonie, für die es zu diesem Zeitpunkt keinen festen Ritus gab, durchführte. Bekannt ist ein Fall aus dem Jahr 1877, wo er im Punjab einen Hindu rekonvertierte, der zwischenzeitlich Christ geworden war, und ein Fall aus dem Jahr 1879, in dem er eine Shuddhi an einem Muslim vollzog[15].

Die Entwicklung der Shuddhi-Bewegung

Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Lage zwischen den verschiedenen indischen Religionsgemeinschaften muss die Entwicklung der Shuddhi-Bewegung in getrennten Phasen betrachtet werden. Denn nicht zuletzt ist es ihre Entwicklung von der religiösen Reform zum Antrieb für soziale Veränderung, bis hin zum Mittel der politischen Mobilisation breiter Massen, die vor allem zur Radikalisierung des Verhältnisses zwischen Hindus und Muslimen führte. Ebenso hat ihre Wirkung zur religiösen Abgrenzung der Sikhs gegenüber den Hindus beigetragen und somit zur Entstehung einer eigenen, vom Hinduismus stärker als bisher differenzierbaren Sikh-Identität geführt.

Die Entwicklung der Shuddhi-Bewegung bis 1900

In den Jahren bis 1890 wurde die Shuddhi-Bewegung durch Glaubensübertritte einzelner Personen geprägt. So sind zum Beispiel im Punjab 39 Rekonversionen für das Jahr 1884 und 55 für das Jahr 1885 belegt.[16] Durch die ständig wachsende Angst vor dem Erstarken des Christentums und des Islams, kam es zur Gründung vieler Shuddhi Sabhas, Vereinigungen zur Durchführung von Shuddhi-Zeremonien, in denen Hindus und Sikhs, die sich als besonders eifrig erwiesen, gemeinsam arbeiteten. Solche Vereinigungen entstanden in diesem Zeitraum flächendeckend im Nordwesten Indiens.

Gleichzeitig mussten sich die Hindureformer mit der Kritik der orthodoxen Brahmanen auseinandersetzen, die sämtliche Veränderungen am Hinduismus und Bestrebungen zu seiner Erneuerung ablehnten. Um sie ebenfalls in eine gemeinsame Front gegen Christen und Muslime einzubeziehen, was jedoch immer nur für kurze Zeit gelang, wurde durch den Arya Samaj und dessen Mitglied Lala Munshi Ram[17], der sich seit 1917 Svami Shraddhanand nannte und die Shuddhi-Bewegung im ersten Viertel des 20. Jh. entscheidend prägte, 1893 eine neue Zeremonie festgelegt, die das bis dahin vereinzelt vorkommende Eintauchen in den Ganges ersetzte.

Sie bestand aus der Rasur des Kopfes in Form einer Tonsur, havan genannt, dem Umhängen der heiligen Schnur, der braunen Brahmanenkordel, der Rezitation des Gayatri, einem alten vedischen Mantra, der Verteilung von Süßigkeiten an die Konvertiten sowie deren gemeinsamer Verzehr. Ebenso erfolgte die Erklärung der Mitgliedspflichten des Arya Samaj, da die Zeremonie häufig mit der Aufnahme in den Arya Samaj verbunden war.[18] Für Rekonvertiten gab es nur wenige Probleme der gesellschaftlichen Akzeptanz, da sie sich mühelos wieder in ihre Kaste und Bruderschaft einfügen konnten. Geborene Christen und Muslime hingegen trafen auf größere Schwierigkeiten, da sie nicht über einen solchen sozialen Rückhalt verfügten. Um nun zu überprüfen, ob eine Person wirklich konvertiert war, führten die Sikhs im Fall der Muslime den Schweinefleischtest ein. Aß ein Konvertit das ihm vorgesetzte Schweinefleisch nicht, so war das ein Zeichen dafür, dass er Muslim geblieben war. Dies löste allerdings nicht nur bei Muslimen einen Schrei der Entrüstung aus, sondern auch bei den Hindus, die sich aus religiösen Gründen ebenfalls vegetarisch ernährten. Diese gründeten daraufhin ihre eigenen Shuddhi Sabhas.[19]

Die gemeinsame Arbeit von Hindus und Sikhs sollte jedoch nicht lange bestehen, denn schon in den 1890er Jahren begannen militante Samaj-Anhänger, Sikhs zu bekehren, um sie so in die Gemeinschaft der ‚reinen’ Hindus aufzunehmen.[20] Exemplarisch soll hierfür der Fall der Rahtias im Jahr 1900 stehen, einer Gruppe kastenloser Sikhs, die traditionell Weber waren, sich aber erfolglos um einen höheren gesellschaftlichen Status innerhalb der Sikh-Gemeischaft bemühten und schließlich zum Hinduismus übertraten. Auf Grund dieses Bruches gründeten die Sikhs nicht nur eigene Shuddhi Sabhas, sondern begannen auch ihr bisher ungeklärtes Abgrenzungsverhältnis gegenüber dem Hinduismus zu bestimmen und die kulturelle Eigenständigkeit der Sikh-Religion durch eine starke Betonung ihrer eigenen Schrift und ihrer Symbole zu unterstreichen.[21]

An diesem Punkt verdeutlicht sich der Wandel der Shuddhi vom Rekonversionsritual zum Konversionsritual und damit zur Möglichkeit der aktiv betriebenen Konversion Andersgläubiger, welche die folgenden Jahre prägte.

Die Entwicklung der Shuddhi-Bewegung bis zur Mitte der 1920er Jahre

Wie schon die Tendenz in den 1890er Jahre zeigte, weitete sich die Verbreitung von Massen-Shuddhis aus, bei denen einige hundert Personen oder ganze Dorfgemeinschaften auf ein Mal bekehrt wurden. So ist für die Jahre von 1911 bis 1921 allein für das Verwaltungsgebiet der United Provinces ein Anstieg der Anzahl gläubiger Hindus um 205.000 vermerkt.[22]

Die dem Schicksal der Unberührbaren zugewandeten Bemühungen zur Verbesserung ihres sozialen Status gewannen ebenso weiter an Bedeutung. Ihre Stellung außerhalb des hinduistischen Kastensystems und somit außerhalb der in weiten Teilen durch den Hinduismus geprägten indischen Gesellschaft wurde als ungerecht und nicht den Traditionen des Hinduismus entsprechend empfunden. Aber auch die enormen Zuwachszahlen durch christliche und muslimische Missionstätigkeit unter dieser gesellschaftlichen Randgruppe trugen in erheblichem Maße zu dieser Aufmerksamkeitsverlagerung bei.

Der erneut einsetzende Widerstand der orthodoxen Brahmanen, die sich vehement für die Unveränderbarkeit des Kastensystems einsetzten, konnte nicht gebrochen werden. Das Schaffen einer sozialen Aufstiegsmöglichkeit, für Unberührbare durch ein Konversionsritual zeigt, wie sich die religiöse Reformbewegung auf Grund äußerer und innerer Einflüsse in eine soziale Reformbewegung verwandelte. Die Idee einer sozialen Reform des Hinduismus war jedoch nicht erfolgreich. Der soziale Aufstieg Unberührbarer wurde nicht nur von den orthodoxen Brahmanen abgelehnt, sondern auch von der Mehrzahl der Arya Samaj-Mitglieder. Diese befürworteten zwar offiziell deren sozialen Aufstieg, lehnten aber gemeinsames Essen oder gar verwandtschaftliche Beziehungen strikt ab. Auf dem Land zeigte sich der Erfolg einer Shuddhi-Zeremonie in der Regel am nächsten Tag, denn wenn den Bekehrten der Zugang zum Brunnen der höheren Kasten verwehrt blieb, war die Zeremonie de facto gescheitert[23].

Ein zweiter bedeutender Bestandteil, der die Shuddhi-Bewegung im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts kennzeichnete, war ihre zunehmende Politisierung auf Grund der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Religionsgruppen. Besonders der Konflikt zwischen Muslimen und Hindus spitzte sich durch eine Vielzahl von Ereignissen, wie zum Beispiel der Kuhschutzbewegung, der Hindi-Urdu-Sprachkontroverse und der Frage der prozentualen Machtverteilung bei der kommunalen Mitbestimmung zu.[24] Sie beeinflussten die verstärkte Missionstätigkeit beider Seiten entscheidend. Es kam zu einer Konfrontation von Mission und Gegenmission, bei der ganze Dorfgemeinschaften ihren Glauben wechselten, aber sich schon kurze Zeit später, auch durch finanzielle Anreize, wieder der vorherigen Religion anschlossen. Spendensammlungen unter den Hindus wie auch unter den Muslimen wurden zu diesem Zweck durchgeführt.

"Malabar und Multan" - der Höhepunkt der Shuddhi-Bewegung

Ihren Höhepunkt erreichte die politische Auseinandersetzung in den 1920er Jahren, als die Hindus unter der Parole "Malabar und Multan" zum Zusammenhalt und zur Einheit aller Hindus, Sangathan, aufriefen. Grundlegend hierfür war ein Ereignis, das ganz Indien in Unruhe versetzte, die Mappila-Rebellion an der Malabarküste. Multan bezeichnet hier den Verbreitungsraum der bereits erwähnten Rahtias und ebenso den Ort schwerer kommunalistischer Ausschreitungen, Unruhen auf Grund religiöser Zugehörigkeit. Des Weiteren waren die Bekehrungskampagnen unter den Malkanas, einer Volksgruppe in der Region um Agra, in den folgenden Jahren, von großer Bedeutung.

Die Mappilas waren eine arme, meist ungebildete Minderheit von einer Million Muslimen, mit dem Stigma des Fanatismus versehen, die unter einer Mehrheit von zwei Millionen Hindus lebten.[25] In Folge der Nichtzusammenarbeits-Kampagne Mahatma Gandhis, die gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien nach dem ersten Weltkrieg gerichtet war und der muslimischen Kalifats-Bewegung, die sich für die Erhaltung der durch die Briten bedrohten Macht des Sultans im Osmanischen Reich einsetzte, kam es 1921 zu einem verheerenden Aufstand.[26] Die Mappilas vertrieben die Briten von der Malabarküste und in den vier Monaten, welche die Briten brauchten, um ihre Herrschaft wieder herzustellen kam es zu Massakern an Hindus, gewaltsamen Bekehrungen, Schändungen hinduistischer Tempel, Vergewaltigungen, Plünderungen und Brandstiftungen.[27] Der Aufschrei unter den Hindus war enorm und erzeugte nach der Wiederherstellung des Friedens eine große Spendenbereitschaft für die Opfer und erneuten Missions- beziehungsweise Gegenmissionskampagnen.

Die Malkanas waren eine synkretistische Gemeinschaft, deren religiöse Praxis sowohl hinduistische als auch islamische Elemente beinhaltete.[28] Ihre Rekonversion setzte hauptsächlich in der Zeit von 1923 bis 1926 ein und ereichte die Anzahl von 30.000 bekehrten Malkanas.[29] Sie markiert damit den Höhepunkt der Shuddhi-Bewegung. Orthodoxe Brahmanen und Reformer arbeiteten durch die empfundene Bedrohung der wachsenden Islamisierung Indiens erstmals zusammen, trennten sich jedoch bald darauf wieder, auf Grund der unvereinbaren Ansichten hinsichtlich der Unberührbaren. Ebenfalls wurde 1926 der Wortführer der Shuddhi-Bewegung, Svami Shraddhanand, durch einen Muslim, nachdem er dessen Frau bekehrt hatte, ermordet. Somit verlor die Shuddhi–Bewegung ihren stärksten Fürsprecher.[30]

Schlussbetrachtung

Die Shuddhi-Bewegung war die umstrittenste Neuerung der Hindureformer. Nicht nur im eigenen Lager, sondern auch unter anderen Religionsgruppen löste sie erheblichen Widerstand aus. Sie zeigt, wie versucht wurde, auf westliche Kulturkritik zu reagieren, vor allem aber, in welcher Weise die Auseinandersetzung mit dem Christentum und dem Islam zu einer Veränderung des Hinduismus führten.

Die empfundene Angst vor der Dominierung oder gar dem Verlust der eigenen Kultur durch andere, sowie in letzter Konsequenz die Angst vor dem Aussterben der eigenen Religion und ‚Rasse’, riefen die Entwicklung eines, Rituals, genauer gesagt die Erfindung einer neuen Tradition auf Basis eines alten Rituals hervor, dessen Notwendigkeit zuvor nicht bestanden hatte. Der Hinduismus, der seine Religionszugehörigkeit bisher durch Geburt definierte, entwickelte sich zu einer Religion mit der Möglichkeit, durch aktive Mission neue Mitglieder zu gewinnen.

Die Entwicklung der Shuddhi zeigte weiterhin, wie sich die religiöse Reform in eine Bewegung zur Veränderung des Loses der Unberührbaren entwickelte und somit zu einem Versuch wurde soziale Reformen durchzusetzen, wenn auch diese Ziele nicht erreicht wurden. Die sich verschärfende Auseinandersetzung mit Muslimen seit dem Beginn des 20. Jahrhundert trug zur Schaffung eines hinduistischen ‚Wir-Gefühls’ bei und somit zu starken Separierungsbestrebungen beider Gruppen. Diese Tendenzen, aus welchen sich der Hindunationalismus mitentwickelte, bildeten einen Baustein der Entstehung des indischen Kommunalismus. Die daraus resultierende Folge, dass jede Gruppe Politik nur im Interesse der eigenen Religionsgemeinschaft macht, ruft auch heute noch viele Spannungen zwischen den verschieden sozialen oder religiösen Gruppen hervor. Die Auseinandersetzung mit den Muslimen wird hierbei von hindunationalistischer Seite besonders intensiv geführt und verzeichnet für die letzten zwanzig Jahre nicht nur eine große Anzahl von Konversions- und Rekonversionskampagnen, sondern auch immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen, die ihren traurigen Höhepunkt in den Gujarat-Unruhen von 2002 erreichten.

Anmerkungen

[1] Jordens, J. T. F., Dayananda Sarasvati. Essays on His Life and Ideas. Delhi 1998. S. 163. Im Folgenden benannt als: Jordens, Sarasvati.

[2] Vgl. ebd. S. 163.

[3] Vgl. ebd. S. 163.

[4] Vgl. Fischer-Tiné, H., Kindly Elders of the Hindu Biradri. The Arya Samaj`s Struggle for Influence and ist Effect on Hindu-Muslim Relations, 1880-1925. in: Copley, A. (Hrsg.), Gurus and their Followers. New Religious Movements in Colonial India. Delhi 2000, S. 112. Im Folgenden benannt als: Fischer-Tiné.

[5] Vgl. Rothermund, D., Die politische Willensbildung in Indien 1900-1960, Wiesbaden 1965 (=Schriftenreihe des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg, Bd. 1), S. 38.

[6] Vgl. Jordens, Sarasvati. S. 165.

[7] Vgl. Datta, Pradip, K. D., Dying Hindus. Production of Hindu Communal Common Sense in Early 20th Century Bengal, S. 1305f, in: Economic and Political Weekly, 19. Juni 1993, S. 1305-1318.

[8] Vgl. Klimkeit, H-J., Der politische Hinduismus. Indische Denker zwischen religiöser Reform und politischem Erwachen. Wiesbaden 1981. S. 193. Im Folgenden benannt als: Klimkeit.

[9] Vgl. Jordens, Sarasvati. S.166.

[10] Klimkeit, S. 192.

[11] Dayananda Sarasvati (1824-1883).

[12] Vgl. Schrenck-Notzing, C., 100 Jahre Indien. Die Politische Entwicklung 1857-1960. Stuttgart 1961. S. 37.

[13] Vgl. Fischer-Tiné, S. 109.

[14] Ebd. S. 113.

[15] Vgl. Jordens, Sarasvati. S. 164.

[16] Vgl. Jordens, Sarasvati. S. 166.

[17] Lala Munshi Ram (1857-1926), genannt Svami Shraddhanand.

[18] Vgl. Jordens, Sarasvati. S.167.

[19] Ebd. S.167.

[20] Vgl. Klimkeit, S. 195.

[21] Vgl. ebd. S. 195.

[22] Vgl. Jordens, Sarasvati. S. 169.

[23] Vgl. Klimkeit, S. 196.

[24] Für weitere Informationen siehe: Lütt, J., Hindu-Nationalismus in Uttar-Pradesh 1867-1900. Stuttgart 1970.

[25] Vgl. Jordens, Sarasvati. S. 170.

[26] Vgl. Rothermund, D., Indische Geschichte in Grundzügen. S. 102.

[27] Vgl. Jordens, Sarasvati. S. 170.

[28] Vgl. Fischer-Tiné, S. 119.

[29] Vgl. Jordens, Sarasvati. S. 175.

[30] Vgl. Jordens, J. T. F., Swami Shraddhanand. His Life and Causes, Delhi 1981, S. 164.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Islam in Südasien .

Quellen

  • Datta, Pradip, K. D. (1993): Dying Hindus. Production of Hindu Communal Common Sense in Early 20th Century Bengal, in: Economic and Political Weekly, 19. Juni 1993, S. 1305-1318.
  • Fischer-Tiné, H. (2000): Kindly Elders of the Hindu Biradri. The Ārya Samāj`s Struggle for Influence and ist Effect on Hindu – Muslim Relations, 1880 – 1925. in: Copley, A. (Hrgs.): Gurus and their Followers. New Religious Movements in Colonial India. Delhi.
  • Jordens, J. T. F. (1998): Dayananda Sarasvati. Essays on His Life and Ideas. Delhi.
  • Jordens, J. T. F. (1981): Svāmī Śraddhānand. His Life and Causes, Delhi.
  • Klimkeit, H.- J. (1981): Der politisch Hinduismus. Indische Denker zwischen religiöser Reform und politischem Erwachen. Wiesbaden.
  • Rothermund, D. (1989): Indische Geschichte in Grundzügen. 3. Auflage, Darmstadt.
  • Rothermund, D. (1965): Die politische Willensbildung in Indien 1900-1960. Wiesbaden, (=Schriftenreihe des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg, Bd. 1, Hrsg. Hermann Berger u. a.).
  • Schrenck-Notzing, C. (1961): 100 Jahre Indien, die Politische Entwicklung 1857-1960, Stuttgart.

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