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12. Oktober 2007. Nachrichten: Indien - Politik & Recht Anzeichen für vorgezogene Wahlen in Indien

Drohende Spaltung der Regierungsallianz wegen des Nuklearvertrags mit den USA

Wird Indien im nächsten Frühjahr statt ein Jahr danach an die Urnen gehen? Der heftige Streit mit den Linksparteien, der wegen des Nuklearvertrags mit den USA entbrannt ist, droht die Regierung in die Minderheit zu versetzen. Sie dürfte es vorziehen, Neuwahlen auszuschreiben.

In Indien mehren sich die Anzeichen für vorgezogene Wahlen. Die Regierung von Manmohan Singh hat in den letzten Wochen gleich eine Reihe neuer Sozialprogramme angekündigt, reihenweise führen Spitzenpolitiker Eröffnungen von Eisenbahnstrecken und Autobahnabschnitten durch, und die Parteiorganisation wird gestrafft und mit neuen Gesichtern ergänzt. Die Ernennung von Rahul Gandhi zu einem der Generalsekretäre der Partei ist für viele Beobachter der Beweis, dass die erhöhte Geschäftigkeit der Regierung nur eines bedeuten konnte: Parlamentswahlen im nächsten Frühjahr. Der Sohn der Parteichefin Sonia Gandhi hatte im letzten Frühjahr die Wahlkampfleitung in der Regionalwahl von Uttar Pradesh übernommen und dabei seine Feuertaufe erhalten. Es war kein besonders erfolgreiches Début gewesen. Doch für die älteste Partei des Landes, die weiterhin am Tropf der Gandhi-Dynastie hängt, war es das sehnlich erwartete Kopfnicken, dass auch ein Spross der fünften Generation die Partei einmal führen wird.

Widerstand der Linken

Es gibt einen vordergründigen Anlass, der Neuwahlen unausweichlich macht. Das Nuklearabkommen mit den USA, das vom Kabinett verabschiedet worden ist – eine Abstimmung im Parlament ist nicht nötig –, droht die Regierungsallianz zu spalten. Die Kommunisten, die die Regierung von außen unterstützen, drohen mit einem Rückzug, falls Manmohan Singh die nächsten Schritte einleitet, die zu einer Unterzeichnung führen würden. In den Augen der Regierung ist das sogenannte 123-Abkommen eine einmalige Chance für das Land, aus der nukleartechnischen Isolation auszubrechen und sich zu den Großen der Welt an den Tisch zu setzen. Für die Linke, der virulenter Antiamerikanismus ein Lebenselixier ist, ist der Vertrag Ausdruck der Unterwerfung Indiens unter die globale Strategie der USA. Er gefährde die autonome Nuklearstrategie des Landes, da er es von Lieferungen der USA abhängig mache, ein Argument, das auch die nationalistische BJP ins Feld führt.

Premierminister Singh, der sich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sonst fast sklavisch dem Druck der Koalitionsparteien gefügig zeigt, demonstriert in dieser Sache für einmal Rückgrat. Er hält daran fest, dass der Vertrag für Indien sehr vorteilhaft ist. Dessen Lieferklauseln seien "wasserdicht", und die Souveränität sei nicht gefährdet. Singhs gewichtigstes Argument ist wirtschaftlicher Art. Indien müsse als armes Land ein hohes Wirtschaftswachstum vorlegen, und nur eine massive Ausweitung der Energieproduktion stelle ein solches sicher. Dazu gehört Nuklearenergie, und diese ist auf Uran-Brennstoff angewiesen, von dem Indien selber nicht genügend produziert.

Doch die Linke zeigt sich taub. Seit zwei Monaten versucht die Regierung vergeblich, die Gegenseite zu überzeugen. Doch je länger der Streit andauert, desto mehr zeigt sich, dass die Linke daraus eine Zerreißprobe machen will. Sie rechnet sich aus, dass ihr die kommunistischen Stammwähler die Zusammenarbeit mit der marktfreundlichen Regierung verzeihen werden, wenn sie mit der neu gefundenen Fahne des Antiimperialismus in den Wahlkampf steigt.

"Kopflose Hühner"

Eine Einigung Indiens mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Nuclear Suppliers Group ist der nächste Schritt, damit das Nuklearabkommen mit den USA in Kraft treten kann. Die Zeit drängt, denn der amerikanische Kongress muss, in seinem letzten Legislaturjahr, das Abkommen noch billigen. Der Beginn der Verhandlungen mit der IAEA ist daher ein Lackmustest. Am Dienstag traf der Generaldirektor der IAEA in Delhi ein, und im Vorfeld dazu musste die Regierung Farbe bekennen. Sie tat es letzte Woche, als sie den Linksparteien klarmachte, dass sie, wenn auch nur auf technischer Ebene, Ende Oktober Gespräche beginnen werde. Und Sonia Gandhi machte am Wochenende klar, dass die Partei bereit ist, dafür im Notfall auch Neuwahlen in Kauf zu nehmen. Bei einer Eröffnungszeremonie, die schon fast wie eine Wahlkampfveranstaltung aussah, rief sie aus, der Kongress stehe für Fortschritt und Sicherheit, und wer gegen das Nuklearabkommen sei, der sei "ein Feind des Fortschritts".

Wie gut ist die Koalition auf Neuwahlen vorbereitet? Bis vor wenigen Wochen hatte es ausgesehen, als hätte sie gute Chancen, ihren Stimmenanteil zu erhöhen. Sie verdankte diese Prognose weniger eigenen Leistungen als ihrer politischen Erzfeindin. Die BJP-Spitzenpolitiker liefen, in den undiplomatischen Worten des indischen Botschafters in Washington, wie "kopflose Hühner" auf der Suche nach einer Wahlplattform herum. Doch nun haben sie eine gefunden, dank der Regierung. Es geht um die Adamsbrücke, eine Kette von Inseln, die Südindien mit Sri Lanka verbindet. Wegen der seichten Stellen zwischen den Inseln müssen Schiffe zwischen der West- und der Ostküste die Umfahrung von Sri Lanka in Kauf nehmen, und deshalb soll eine Fahrrinne ausgebaggert werden, die ihnen eine große Abkürzung erlaubt.

Zweifel an der Existenz Rams

Doch was wirtschaftlich sinnvoll ist, kann die Form einer Blasphemie annehmen. Laut dem Mythos des Gottes Ram hatte dieser die Brücke "Setusamudra" gebaut, um seine Gattin Sita zu retten, die in den Händen des Königs von Lanka schmachtete, seines Bruders Ravana. Hindu-Organisationen waren schon einige Zeit auf der Suche nach einem Ersatz für Ayodhya. Sie reichten beim Obersten Gericht Petitionen ein, die das Projekt stoppen sollten. Als das Gericht von der Regierung eine Stellungnahme verlangte, ließ sie ihren archäologischen Dienst antworten. Die historische Existenz Rams könne wissenschaftlich nicht mit absoluter Sicherheit bewiesen werden, hieß es in einem Gutachten. Die plausible Erklärung löste sofort einen Entrüstungssturm aus. L. K. Advani, der bald 80-jährige Veteran früherer Ram-Kreuzzüge, fragte entrüstet, wie die Regierung es wagen könne, die Existenz Rams anzuzweifeln. Es zeige, wie wenig sich der "Italiener-Kongress" um die Gefühle der Hindu-Mehrheit schere. Sonia Gandhi, die Präsidentin der Kongresspartei, stammt aus Italien.

Inzwischen hat sich der Streit abgekühlt, aber die Tatsache, dass die zuständige Kulturministerin ihre Demission anbot, zeigt, wie sehr die Regierung eine neuerliche Mobilisierung der Wähler unter der Hindu-Flagge fürchtet. Das Thema zeigt auch, dass die BJP weiterhin nicht fähig ist, eine breit abgestützte Oppositionsstrategie ohne Appell an religiöse Gefühle zu entwickeln. Die Partei ist zwar auch gegen den Nuklearvertrag, den sie als Regierungspartei gefördert hatte. Aber damit lassen sich keine Wahlen gewinnen. Das weiß auch der Kongress, und deshalb wird er nicht müde, seine sozialpolitischen Leistungen ins rechte Licht zu rücken. Ob der Wähler ihm dies abnimmt, wird erst der Urnengang zeigen. Immerhin tut die Kongresspartei alles, um die relativ stabile ökonomische Situation nicht als Wahlkampfargument einzusetzen. Die BJP hatte vor drei Jahren unter dem Slogan "Shining India" dasselbe getan und war von der Volksmehrheit, die im Schatten geblieben war, abgewählt worden.

 

Quelle: Der Artikel erschien im Orginal am 11.10.2007 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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