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11. November 2000. Indien Uttarakhand (Uttaranchal)

Indiens neuer Unionsstaat im Himalaya

Land und Leute

Uttaranchal (seit 1.1.2007 Uttarakhand) umfaßt den nördlichen Teil Uttar Pradeshs und erstreckt sich auf 63.157 qkm, was in etwa der Größe der Schweiz entspricht. Es beinhaltet die unter dem Namen Uttarakhand zusammengefaßten Regionen Garhwal und Kumaon sowie einen schmalen Streifen der sich nach Süden erstreckenden Gangesebene. Der Unionsstaat grenzt im Norden an Himachal Pradesh und die Volksrepublik China, im Osten an Nepal und im Süden an Uttar Pradesh. Von Dehra Dun, der vorläufigen Hauptstadt im Südwesten, sind es bis Delhi etwa 250 Kilometer und bis Lucknow etwa 500 Kilometer.

Karte von Uttarakhand
Karte von Uttarakhand Foto: Eric Töpfer

Große Teile der Distrikte Uttar Kashi, Chamoli und Pithoraghar liegen oberhalb 3.000 Meter. Die Gebirgsketten des Himalaya erreichen hier weit über 7.000 Meter (Nanda Devi 7.816 Meter). In 2.000-3.000 Meter Höhe befinden sich die Distrikte Tehri Garhwal und Almora sowie die südlichen Teile der Hochgebirgsdistrikte. Die Ausläufer des Himalaya umfassen die Distrikte Pauri und Nainital. Die Distrikte Champawat und Bageshwar bilden in den mittleren Höhen die Grenze zu Nepal. Udham Singh Nagar und die Distrikte Haridwar und Dehradun liegen bereits in der Ebene, die auch den verbleibenden Teil Uttar Pradeshs charakterisiert.

Uttarakhand - Distrikte
Distrikte (2001): 1 Udham Singh Nagar, 2 Nainital, 3 Champawat, 4 Almora, 5 Bageshwar, 6 Pithorgarh, 7 Chamoli, 8 Rudraprayag, 9 Tehri Garhwal, 10 Garhwal, 11 Haridwar, 12 Dehradun, 13 Uttarkashi Foto: Christoph S. Sprung

Die Bevölkerung Uttarakhands umfaßt lediglich acht Millionen Menschen. In den dünnbesiedelten Hochgebirgsregionen lebt ein Großteil der als "Tribals" bezeichneten Bevölkerung. Ihr kultureller und wirtschaftlicher Austausch orientierte sich bis zur Schließung der Grenze eher nach Tibet als nach Süden. Die dortigen Gesellschaften sind nicht oder nur schwach in Kasten untergliedert, ihre Religion umfaßt neben tibetisch-buddhistischen auch hinduistische Elemente. Dennoch spielen selbst bei den stärker "hinduisierten" Gruppen brahmanische Rituale und Mythologie nur eine untergeordnete Rolle.

Die Garhwalis und Kumaonis der mittleren Höhenlagen setzen sich größtenteils aus einheimischen Brahmanen und Rajputen zusammen. Die als Other Backward Casts (OBC) klassifizierte Bevölkerung umfaßt hier - in scharfen Gegensatz zum verbleibenden Uttar Pradesh - nur einen äußerst geringen Teil. Der heutige Hauptunterschied zwischen den sehr ähnlichen Regionen ist sicher der Unterschied in der Sprache - dem Kumaoni und dem Garhwali.

Auch in den Flachlandgebieten dominieren Brahmanen und Rajputen, allerdings leben hier vor allem Punjabis (vorwiegend Sikhs) und Bengalis, die nach der Unabhängigkeit und der Teilung zuwanderten.
Wirtschaft und Infrastruktur

Uttarakhand ist ein agrarischer Staat, größere Industriebetriebe gibt es nicht. Die Landwirtschaft ist überwiegend auf den Eigenbedarf ausgerichtet. 70% der Felder sind kleiner als ein Hektar, größere Felder und Plantagen finden sich nur in Udham Singh Nagar.

In den Höhenlagen dominiert der Anbau von Hirse und verschiedenen Gemüsen (Erbsen). Reis läßt sich nur bis etwa 1.800 Meter wirtschaftlich anbauen. Die jährlichen Reiserträge decken den Bedarf der Bevölkerung nicht, so daß die zusätzlich benötigte Menge aus der Ebene importiert werden muß. Da diese in Zukunft sowohl in Uttar Pradesh als auch in Uttarakhand besteuert werden wird, ist mit einer Verteuerung des Reis und anderer aus Uttar Pradesh bezogener Waren zu rechnen.

Besondere Bedeutung besitzen die ausgedehnten Wälder. Bis in die 1980er Jahre fielen weite Teile einem als "Timber Mafia" bezeichneten Kartell von Großhändlern und regionaler Bürokratie zum Opfer. Aus Protest gegen den Raubbau entstand 1973 in Gahrwal die Chipko-Bewegung, die durch das "Umarmen" von Bäumen versuchte, deren Abholzen zu verhindern. Auf Druck der Bewegung verbot die Zentralregierung schließlich den Holzeinschlag über 1.000 Meter Höhe, entzog damit aber auch den Einheimischen ihre traditionellen Nutzungsrechte.

Große Hoffnungen für die künftige Entwicklung werden in Wasserkraftwerke gesetzt. Am Oberlauf des Vishnuganga und bei Tehri werden bereits seit einigen Jahren Kraftwerke gebaut, die allerdings in der Region ähnlich umstritten sind wie das Staudammprojekt im Narmada-Tal. Insgesamt wird die mögliche Stromerzeugung auf bis zu 40.000 MW geschätzt, was größere Exporte in die benachbarten Unionsstaaten ermöglichen würde.

Eine Möglichkeit zur Schaffung von Einkommen und Arbeitsplätzen im Rahmen einer nachhaltigen Wirtschaftsweise könnte die Kommerzialisierung des Obstanbaus und der Verarbeitung nach dem Vorbild Himachal Pradeshs sein. Ähnliches gilt für die vielfältigen Heilpflanzen. Über Studien hinausgehend sind aber in dieser Richtung bisher kaum Anstrengungen unternommen worden.

Die meisten Einnahmen erwirtschaftet bisher der Tourismus (etwa 100 Millionen DM pro Jahr). In Garhwal befindet sich neben den Pilgerzielen Gaumukh, Badrinath, Kedarnath und Yamunotri sowie dem religiösen Zentrum Rishikesh auch ein erstes Skiressort in Auli. Kumaon konnte außer in der Gegend um Almora und Nainital und auf den (seit 1981 wieder geöffneten) Pilgerrouten zum Kailash bisher kaum Touristen oder Pilger anlocken.

Größtes Problem für den Tourismus und die gesamte wirtschaftliche Entwicklung ist jedoch die mangelnde Infrastruktur. Weniger als drei Viertel der Orte sind mit Strom versorgt, eine Grundschule in maximal drei Kilometer Entfernung ist nur für etwa die Hälfte der Dörfer erreichbar. Auf 100 qkm kommen 23 Kilometer Straßen, die vielfach nur mit Jeeps befahrbar sind.

Die Vorstellungen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung reichen von Hoffnungen auf eine "Schweiz Indiens" mit florierendem Tourismus und bedeutenden Stromexporten, über Pläne einer nachhaltigen Entwicklung auf ländlicher Basis, bis zu Befürchtungen, dass der Staat wirtschaftlich nicht überlebensfähig sei und dauerhaft von den Zuteilungen der Zentralregierung abhängen wird.

Dringendste Probleme sind die Versorgung mit billigen Nahrungsmittel, die Lösung der Infrastrukturprobleme und die Schaffung von Arbeitsplätzen im verarbeitendenden Gewerbe. Das läßt darauf schliessen, dass die neue politische Führung auf absehbare Zeit wohl öfters in New Delhi zu Gast sein wird.

Geschichte und Politik

Bis zur Unabhängigkeit blieben die beiden Regionen Garhwal und Kumaon die meiste Zeit ihrer Geschichte getrennte politische Einheiten. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelte sich erst in der jüngeren Vergangenheit.

Staatliche Strukturen lassen sich seit dem frühen Mittelalter nachweisen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Region durch die Rivalität der beiden Fürstentümer geprägt. Erst die Eroberung durch Gurkha-Armeen aus dem angrenzenden Nepal ließ die beiden Fürsten an der Seite der Briten zusammenkommen. In der Folge wurden Kumaon und der Osten Garhwals den United Provinces angegliedert. Nur Tehri Garhwal blieb bis 1949 ein halbsouveränes Fürstentum.

Nach der Teilung im Gefolge der Unabhängigkeit siedelten sich im vorgelagerten Flachland Punjabis und Bengalis an. Obwohl ein noch unter britischer Herrschaft erarbeiteter Plan die Ansiedlung von demobilisierten Soldaten der Gebirgsregimenter vorgesehen hatte, gelang es den Zuwanderern, große Ländereien zu erwerben und ihren Besitz im Laufe der 1960er Jahre mit Hilfe der regionalen Verwaltung zu legalisieren.

Die wirtschaftliche Vernachlässigung der Region durch die Regierung in Lucknow, die politische und wirtschaftliche Dominanz durch die dortige Bürokratie und die zugewanderten Großgrundbesitzer sowie die Ausbeutung der Wälder führte Ende der 1960er Jahre zur Entstehung erster regionalistischer Bewegungen. In den 1970ern konzentrierten sich die Auseinandersetzungen besonders auf die Abholzungen und den zunehmenden Alkoholgenuß, erst 1989 gewann die Autonomieforderung mit der Gründung des Uttarakhand Sanyukta Sangarsh Saniti, eines Dachverbandes regionalistischer Gruppen, erneut an Prominenz. Die langsame und unzureichende Hilfe der Regierung nach dem verheerenden Erdbeben 1991 verstärkte die Entfremdung der Bergbewohner gegenüber der politischen Führung in Lucknow.

Der Versuch der von der Bahujan Samaj Party geführten Landesregierung 1994 die OBC-Quote von 27% der öffentlichen Stellen auch auf die Gebirgsregionen von Uttar Pradesh auszudehnen, stieß auf erbitterten Widerstand der ganz überwiegend oberkastigen Bergbewohner. Die Quotierung hätte eine Beschränkung der knappen Arbeitsplätze und den erneuten Zuzug von Flachlandbewohnern und deren weitere Dominanz in der Verwaltung bedeutet. Auf dem Weg zu einer Demonstration kam es am 2. Oktober 1994 zu Polizeiübergriffen. Die folgenden Unruhen weiteten sich aus, als Vergewaltigungen durch die State Police bekannt wurden. Trotz monatlicher Protestmärsche lehnte die Regierung eine Entschuldigung ab. Erst 1996 wurden Entschädigungen für die Toten und Vergewaltigungsopfer zugesagt.

Im August 1996 erklärte die Congress(I)-Regierung unter Narasimha Rao ihre Unterstützung für die Aufteilung von Uttar Pradesh und die Schaffung zwei weiterer Staaten, auch die Bharatiya Janata Party (BJP) stimmte zu. Neben dem Druck der Bevölkerung spielten dabei vor allem strategische Überlegungen zu zukünftigen Mehrheitsverhältnissen eine Rolle sowie die Hoffnungen, dass kleinere Staaten ihre wirtschaftliche Entwicklung besser koordinieren könnten.

17 der 22 Abgeordneten im neuen Parlament von Uttaranchal sind BJP-Mitglieder (Stand 2000). Da keine Neuwahlen geplant sind, sondern nur das alte Parlament von Uttar Pradesh geteilt wurde, kann die BJP in dieser Legislaturperiode den Unionsstaat ohne ernstzunehmende Opposition regieren. Widerstand droht eher aus den Reihen der eigenen Fraktion, wie sich in den Auseinandersetzungen um die Hauptstadt und den Posten des Chiefministers zeigt. Neben persönlichen Feindschaften und den üblichen Rangkämpfen haben hier noch die unterschiedlichen Loyalitäten der Abgeordneten zur regionalistischen Bewegung oder gegenüber Lucknow Bedeutung. Entgegen den Hoffnungen der Bewegung wird die Hauptstadt nicht in den Bergen liegen, auch der Gouverneur und der Chiefminister stammen aus der Ebene.

Bis Ende November war die Verwaltungsmaschinerie des neuen Staates noch nicht vollständig angelaufen, teilweise auch, weil sich viele höhere Verwaltungsbeamte des Indian Administrative Service (IAS) nur schwer zum Umzug in die Berge bewegen lassen.

In seinen öffentlichen Auftritten konnte der neue Chiefminister, Nityanand Swamy, noch keine konkreten Aussagen zu seinen politischen und wirtschaftlichen Plänen machen. Allerdings scheint seine Forderung nach einem Sonderstatus bei der Verteilung von Geldern durch die Planning Commission Erfolg zu haben, was bedeuten würde, dass der strukturschwache junge Unionsstaat lediglich 10% der Entwicklungshilfe-Zahlungen aus New Delhi zurückzahlen müßte gegenüber den üblichen 70%. Für Überraschung sorgte Swamys Ankündigung, nach dem Auslaufen der bestehenden Alkoholkonzessionen im April 2001 keine neuen Lizenzen zu vergeben. Das entspricht einer seit den 1970ern bestehenden Forderung vieler Frauen Uttarakhands, dürfte aber, wie die Erfahrungen anderer "dry states" zeigen, kaum durchzusetzen sein.

Besondere Probleme für die politische Stabilität des neuen Staates sind von dem Distrikt Udham Singh Nagar zu erwarten. Die dortige Bevölkerung fühlt sich eher der Ebene zugehörig und lehnte den Anschluß an Uttarakhand ab. Die Großgrundbesitzer fürchten außerdem um die Sicherheit ihres Besitzes in einer von den Bergregionen dominierten Verwaltung und Gesetzgebung. Die Unterstützung durch die im Punjab regierende Sikh-Partei Shiromani Akali Dal, die Koalitionspartner in New Delhi ist, könnten zu einem Einlenken der BJP bezüglich der Unantastbarkeit der Eigentumsverhältnisse und stärkerer Repräsentation des Distrikts im neuen Staat führen.

Ein weiteres Problem könnte die zunehmende Agitation der religiösen Rechten werden. Aussagen des Vishwa Hindu Parishad deuten darauf hin, dass sich Uttaranchal (wo außer den Sikhs in Udham Singh Nagar kaum religiöse Minderheiten, aber viele "heterodoxe Hindus" leben) zu einem Aufmarschgebiet der Hindutva-Kräfte für einen ersten wahren "Hindu-Staat" entwickeln könnte.

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