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09. April 2014. Kommentare: Indien - Politik & Recht Eine Wahl der Superlative und viele Herausforderungen

Die 16. Wahlen zur Lok Sabha in Indien

In Indien wird seit dem 7. April bis zum 12. Mai 2014 ein neues Parlament gewählt. Wer gewinnt, steht vor großen Aufgaben, denn die größte Demokratie der Welt hat viele Probleme – allen voran die soziale Ungleichheit, die bislang nur wenig effizient bekämpft wird.

Die Jagd nach Weltrekorden wird in Indien gerne mit besonderer Passion betrieben. Seit dem 7. April wirken 814.000.000 Wahlberechtigte an einem neuen Rekord mit: Nie zuvor waren so viele Menschen aufgerufen, sich aktiv an einer demokratischen Parlamentswahl zu beteiligen. Zusammen könnten sie eine Warteschlange bilden, die achtmal den Äquator umrunden würde. Die Durchführung der Wahl zur Vergabe der 543 Sitze im indischen Unterhaus, der Lok Sabha, birgt enorme Herausforderungen. Auf über neun Wahltage bis zum 12. Mai verteilt, müssen hierfür in 28 Bundesstaaten sowie sieben Bundesterritorien Wahlmaschinen aufgestellt werden, an denen dann per Knopfdruck abgestimmt wird. Die Wahlkommission versucht dabei, neben dem enormen logistischen und sicherheitsbedingten Aufwand, lokale Wetterlagen und damit verbundene Erntezeiten sowie auch Schulferien zu berücksichtigen. Das Ergebnis der Stimmauszählung soll am 16. Mai verkündet werden, bis Ende Mai muss sich das neue Unterhaus konstituiert haben, das dann die neue Regierung wählt.

Wer Ende Mai die Verantwortung für das Wohl von rund 1,25 Milliarden Inderinnen und Indern übernimmt, ist trotz aller Bemühungen der Demoskopen ungewiss. Denn insbesondere das relative Mehrheitswahlrecht, bei dem der Kandidat mit den meisten Stimmen eines Wahlkreises den Sitz in der Lok Sabha einnimmt, und zahlreiche Wahlabsprachen mit regionalen Parteien sowie kurzfristige Seitenwechsel von Kandidaten machen das Ergebnis unkalkulierbar.

UPA, NDA oder "Dritte Front"?

Trotzdem rechnen viele mit einer Niederlage der Regierungskoalition der United Progressive Alliance (UPA) unter Führung der Indischen Kongresspartei (INC). Der 81jährige Premierminister Manmohan Singh tritt nach zwei Amtsperioden nicht mehr an. An seiner statt schickt der INC Rahul Gandhi, den 43jährigen Spross der Nehru-Gandhi-Politikerdynastie und Vizepräsident der Kongresspartei, als ungekürten Spitzenkandidaten ins Rennen. Scheinbar möchte seine Mutter Sonia Gandhi, die seit 1998 den Kongress-Vorsitz innehat, ihn so vor möglichen Schuldzuweisungen nach einer drohenden Wahlschlappe bewahren. Rahul Gandhi, der seit der vorletzten Wahl im Jahr 2004, als er den traditionellen Stammwahlkreis seiner Mutter in Amthi im Bundesstaat Uttar Pradesh übernahm, in der Lok Sabha sitzt, hat zudem ein recht hölzernes, bemüht freundliches und im Vergleich zu anderen politischen Spitzenpolitikern eher unscheinbares Image.

Die Bilanz nach einem Jahrzehnt Herrschaft der UPA ist durchwachsen, die Zeit war von zahlreichen Bestechungsskandalen geprägt. Obwohl der INC sich besonders der Armutsbekämpfung verschreibt und nationale Entwicklungs- und Versorgungsprogramme auf den Weg brachte, zum Beispiel ein 100-Tage-Arbeitsbeschaffungsprogramm für ländliche Haushalte, den Aufbau einer Krankenversicherung für die Ärmsten und weitere Lebensmittelsubventionen, halten sich die Erfolge in Grenzen. Bei Wahlen auf Bundesstaatenebene verliert die Kongresspartei seit Jahren regelmäßig an Einfluss und agiert zunehmend als eine Oppositionspartei unter vielen oder wird zum Junior-Koalitionspartner regionaler Parteien.

Bessere Gewinnchancen hat das rechtsnationalistische Oppositionsbündnis der National Democratic Alliance (NDA) unter Führung der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP). Ihr Spitzenkandidat, der 63jährige Narendra Modi, fungiert als Hoffnungsträger. Der Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat gilt als wirtschaftsnaher und durchsetzungsstarker Politiker. Allerdings ist er aufgrund seiner unrühmlichen Rolle bei den kommunalistischen Pogromen, die sich im Jahr 2002 vorrangig gegen Muslime in Gujarat richteten, vorbelastet. Trotzdem wird einer möglichen Regierung unter Modi am ehesten zugetraut, das merklich verlangsamte Wirtschaftswachstum wiederzubeleben. Die NDA hatte zuletzt von 1998 bis 2004 regiert, dann allerdings überraschend gegen die UPA verloren, die mit ihren vorrangig an die Belange der ländlichen Bevölkerung ausgerichteten Wahlkampfthemen punktete, während die NDA letztendlich erfolglos den Wirtschaftsboom der vorangegangenen Jahre mit ihrer "India Shinig"-Kampagne für sich zu nutzen versuchte.

 

Aam Aadmi Party
Anhänger der Aam Aadmi Partei bei einer Wahlkampfveranstaltung in Maharashtra (Foto: Fritzi Titzmann)

Als weitere Koalition bringt sich zudem die "Dritte Front" in Position. Dieses Bündnis besteht aus sieben Regionalparteien, unter anderem aus dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh, dem benachbarten Bihar und dem an der Südspitze des Subkontinents gelegenen Tamil Nadu, sowie vier linken Parteien. Es könnte durchaus einen Sieg erringen, sofern es die Unterstützung weiterer Parteien nach dem Wahlgang gewänne. Regierungskoalitionen aus heterogenen, kleineren Parteien gab es schon von 1996 bis 1998, allerdings waren sie stets von kurzem Bestand. Eine wichtige Rolle könnte hierbei die ohne Koalitionsabsprache antretende Aam Aadmi Partei (AAP) spielen. Die noch junge "Partei des einfachen Mannes" ging aus einer Antikorruptionsbewegung hervor. Sie konnte bei der Wahl im Bundesdistrikt Delhi im Dezember vorigen Jahres einen Achtungserfolg erzielen und wird nun national antreten.

Immense Herausforderungen

So ungewiss der Wahlausgang sein mag, auf die Gewinner warten immense Herausforderungen. Indien hat seit den neunziger Jahren ein beachtliches wirtschaftliches Wachstum erlebt, aber viele Probleme – allen voran die Armut – nur teilweise bewältigen können. Die neue, vorwiegend urbane Mittelschicht umfasst 350 Millionen Menschen. Einige Inderinnen und Inder konnten in die Liga der Superreichen aufsteigen, der Forbes-Rangliste für Indien 2013 zufolge gibt es 55 Dollar-Milliardäre. Doch leben 70 Prozent der Bevölkerung noch immer unterhalb der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar am Tag. Rund 250 Millionen Inderinnen und Inder leben sogar von weniger als einem US-Dollar am Tag, gut ein Drittel aller Kinder leidet an Mangelernährung. Die Wahl dürfte auf dem Land entschieden werden, wo über zwei Drittel der Bevölkerung wohnen, die Hälfte aller Arbeitskräfte arbeitet in der Landwirtschaft.

Patriarchale und elitäre Strukturen dominieren weiterhin die Gesellschaft Indiens. Das Kastensystem besteht trotz neuer Arbeitsformen fort und passt sich diesen Veränderungen mitunter sogar recht flexibel an. Obwohl moderne Berufsfelder, beispielsweise in den Bereichen des Ingenieurwesens oder der Verwaltung, keine erblichen Berufe an sich mehr darstellen und somit diesen Aspekt des Kastenwesens immer mehr in den Hintergrund treten lassen, findet trotzdem weiterhin noch ein Großteil der Eheschließungen innerhalb der jeweiligen Kasten statt. Zahlreiche Quotenprogramme für benachteiligte Kasten (die sogenannten Other Backward Classes - OBC), Dalits (sogenannte kastenlose "Unberührbare" oder auch Scheduled Castes - SC), Adivasi (indigene Gruppen oder auch Scheduled Tribes - ST) und Nicht-Hindus fördern eher die Aus- und Abgrenzung als die Inklusion. Abgesehen von einigen meist privaten Bildungseinrichtungen ist die Schulbildung vielerorts seit Jahrzehnten kaum verbessert worden und die Abbruchquote ist hoch, da Kinderarbeit für viele Familien unentbehrlich ist. Korruption ist weitverbreitet und umfasst sehr viele Bereiche des alltäglichen Lebens, vom Zugang zur medizinischen Versorgung bis hin zur Besetzung von Arbeitsstellen. Zahlreiche Binnenkonflikte – oft in Kombination mit ethnischen und religiösen als auch politisch-ideologischen Konfliktlinien – schwelen seit Jahren vor sich hin. Das weit über den Antiterroreinsatz hinausgehende gewaltsame Vorgehen der Sicherheitsdienste gegen Angehörige der muslimischen Bevölkerungsmehrheit im indischen Teil Kaschmirs, gegen Separatisten im Nordosten und maoistische Naxaliten in Zentralindien führt regelmäßig zu schweren Menschenrechtsverletzungen. In Kombination hiermit, aber gleichzeitig auch weit darüber hinausreichend, muss leider betont werden, dass insbesondere die strukturelle Gewalt gegen Frauen und Chauvinismus nahezu landesweit virulent sind und dazu jegliche Formen "queerer" Sexualität seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofes vom Dezember 2013 wieder gemäß der Sektion 377 des indischen Strafrechts kriminalisiert wird.

Wahlkampf im Angesicht der Gegensätze

Derweil ist seit Wochen Wahlkampf. Er wird sich noch bis zum letztmaligen Aufstellen der Wahlmaschinen am 12. Mai hinziehen, wenn der Wahlmarathon in den bevölkerungsreichen Bundesstaaten Bihar, Uttar Pradesh und West-Bengalen seinen Abschluss findet. Die Auftritte der Kandidaten haben den Charakter von Volksfesten samt Volksküche. Das Wahlvolk – darunter 100 Millionen Erstwähler – will unterhalten werden. Parteivertreter versuchen, die Gunst der lokalen Honoratioren und spirituellen Lehrer zu gewinnen, deren Wahlempfehlungen ausschlaggebend sein können. Versprechungen werden gemacht und Wahlkampfgeschenke verteilt. Den schlimmsten Auswüchsen versucht der Wahlkodex entgegenzusteuern, der den Kandidaten eigentlich verbietet, ihre politischen Gegner mit hanebüchenen Verunglimpfungen zu überziehen. Außerdem ist es der Regierung nun verboten, die Wähler durch neue Subventionen und Förderprogramme zu beeinflussen. Für kurze Zeit treten die realen Gegensätze zurück, die sich darin zeigen, dass beispielsweise Indien einerseits ambitioniert Marssonden ins Weltall schießt, sich als regionale Atommacht und weltweit größter Waffenimporteur betätigt und andererseits so viele Menschen an Hunger und medizinischer Unterversorgung leiden. Lautstark wird bemängelt, dass die bestechliche Bürokratie und Justiz extrem langsam arbeiten. Versprochene und verschleppte Infrastrukturprojekte sollen nun angegangen werden, Schuldige belangt werden. Selbst der Umweltschutz wird plötzlich wichtig. Die jenseits der Wahlkampfzeiten in der Bevölkerung vorherrschende Skepsis gegenüber einer in vielen Fällen korrupten Politikerschar soll jetzt ruhen. Die Ernüchterung kann bis nach der Wahl warten.

 

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