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01. Mai 2011. Interviews: Indien - Kunst & Kultur "Die Kommunisten müssen gehen"

Interview mit Mahasweta Devi

Die bengalische Schriftstellerin und Aktivistin Mahasweta Devi über das mögliche Ende der kommunistischen Regierung in Westbengalen und ihr Verständnis von Literatur und Politik

In vielen Ihrer Romane spielt die indische Stammesbevölkerung eine Hauptrolle. Die indische Gesellschaft betrachtet diese Gruppe immer noch als zurückgeblieben.

Sie sind ganz und gar nicht unterentwickelt, im Gegenteil. Sie haben eine reiche Kultur, Musik und Volkslieder. Fortschrittlich sind sie, denn sie kennen keine Mitgift, können sich scheiden lassen und wieder heiraten, was in der Mehrheitsgesellschaft schwieriger ist. In der hinduistischen Tradition muss der Vater des Mädchens Goldschmuck, Geld und viel mehr geben. Bei den Ureinwohnern ist es der Mann, der ein Stück Land oder Kühe geben sollte, dann entscheidet der Vater darüber, ob er ihm die Tochter zur Frau gibt.

Wie finden Sie ihre Geschichten?

Nehmen wir die Erzählung "Draupadi" über eine Frau, der man mit Gewalt die Kleider vom Leib riss und sie brutal vergewaltigte. (Erschienen in der Kulturzeitung Lettre International Nr. 13, 1991) Ein General versuchte ihre Würde zu brechen, aber sie leistete ihm Widerstand. Ich hatte über den Fall einer Ureinwohnerin gelesen, doch es hätte überall passieren können. Ihr Name ist von Bedeutung, denn im hinduistischen Epos Mahabharata ist sie eine der Hauptfiguren und muss fünf Brüder heiraten. Im Gegensatz zu meiner Draupadi ist sie nicht unabhängig. Als sie nackt ist, machte ihr das keine Angst. Oft werden Frauen misshandelt wie sie. Einige wehren sich, manche werden ermordet, diese Frau aber protestierte: "Versuch mir Angst zu machen oder mich zu unterdrücken, ich fürchte mich nicht".

Wie sähe eine Eigenbeschreibung ihrer Literatur aus? Ich würde sie als eine einzigartige Mischung aus sozialem Realismus, Fakten und Engagement beschreiben.

Viele meiner Geschichten basieren auf wahren Ereignissen, der Rest kommt aus der Erfahrung, wie in dem Roman "Choti Munda and his Arrow" (bislang nicht übersetzt, Anm. d. V.) der aus meiner Verbindung zu den Ureinwohnern entstand. Choti ist der Name eines Flusses, den die Eltern ihrem Sohn gaben. Choti Munda war ein legendärer Bogenschütze. Anhand seiner Erlebnisse schildere ich, wie das Land der Ureinwohner an die Groß-Industriellen verkauft wird.

In Ihren auch ins Deutsche übersetzte Roman "Mutter 1084" haben sie in den 70er Jahren geschrieben, doch die Geschichte ist aktueller denn je.

Es war in der Zeit, als die Naxaliten-Bewegung [1] in Westbengalen stark war. Viele junge Männer schlossen sich dem linken Volksaufstand an und wurden von der Polizei und den Sicherheitskräften der Regierung grausam ermordet. Ich kannte einige, die starben. "1084" erzählt von einer betroffenen Mutter. Es schockierte mich damals, dass die toten Kinder für die Polizei nichts weiter waren als bloße Nummern.

Hatten Sie damals Sympathien für die Naxaliten?

Ja, weil sie Anti-Establishment waren – es war eine Erhebung der Armen gegen die Reichen.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Naxaliten-Bewegung damals und den Maoisten im Untergrund heute?

Damals starben junge Leute für ihre Ideale. Und auch heute sind es wieder junge Leute, die protestieren. In Westbengalen hat die Regierung so viel Gewalt gegen das Volk zu verantworten. Heute geht es gegen die Industriekomplexe. Die Maoisten kämpfen gegen die im Namen der Regierung begangene Ungerechtigkeit.

Ist Unterentwicklung das zentrale Problem?

In Westbengalen leben Menschen außerhalb der Stadt mit Kerosinlampen. Aber Kerosin-Öl können die Dorfbewohner oft nicht kaufen, weil ihnen der Zugang zu staatlichen Lebensmittel-Karten verweigert wird, mit denen sie es zu subventionierten Preisen erwerben könnten. Also leben sie in Dunkelheit. Auch können sie daher weder billigen Reis noch Weizenmehl oder Zucker bekommen. Wie soll man den Dorfbewohnern erklären, dass sie keine Elektrizität haben. Sie sterben von Schlangenbissen, weil es kein Licht gibt, keine Ärzte, keine Krankenhäuser. Es geht hier um ganz grundlegende Probleme.

Ihr Engagement zeigen sie nicht nur in ihren Büchern. Sie schreiben auch Kolumnen und haben einige Nichtregierungsorganisationen mitgegründet.

Das liegt in der Familie. Meine Eltern gehörten zur gebildeten Mittelklasse und lehnten sich gegen Fremdherrschaft der Briten auf und kämpften für die Unabhängigkeit. Sie wollten die Malaria und Cholera beenden und Ärzte in die unterentwickelten Gebiete bringen. Der Kampf geht bis heute weiter, selbst wenn die Briten längst nicht mehr da sind.

Ich möchte gern mehr über die aufständische Lalgarh-Bewegung wissen.

Lalgarh liegt im Distrikt West-Midnapore. Er ist reich an Mineralien, Bauxit, Kohle, Kupfer und Mangan. Die kommunistische Regierung Westbengalens (Communist Party of India (Marxist)/ CPI (M))wollte weite Gebiete an den Stahlproduzenten Jindal Group verkaufen, dagegen regte sich Widerstand. Die Regierung versuchte eine "Special Economic Zone" (SEZ), eine Art Freihandelszone, zu errichten und die Leute gewaltsam aus den Wäldern und von ihren Feldern zu vertreiben, Hindus und Muslime, Ureinwohner und ganz gewöhnliche Bauern. Der Ministerpräsident Buddhadeb Bhattacharya hätte diesen Reichtum für Entwicklungsprojekte und für die dort lebenden Menschen nutzen sollen statt ihn zu verkaufen.

Hat die kommunistische Regierung Westbengalens einen Plan für die Zukunft der Bauern?

Nicht im Geringsten. Sie erklärt ständig, sie wolle dieses oder jenes tun, aber es passiert nichts. Deswegen sind wir wütend auf diese Regierung.

Diese Regierung hat versagt, deshalb muss sie gehen. Die Menschen können in Wahlen selbst entscheiden. Indien ist eine Demokratie. Gebt den Menschen ihr tägliches Brot. Nicht als Almosen. Sie sollen es sich selbst verdienen können.

Einen Dialog mit der Industrie halten Sie nicht für möglich?

Ich bin nicht grundsätzlich gegen sie, aber ich habe etwas dagegen, wenn fruchtbares Land, auf dem Reis angebaut wird, an Industrielle verkauft wird, die darauf große Fabriken bauen und Profit nur für sich selbst rausziehen. Die Ureinwohner haben davon nichts.

Wie sehen Sie die Zukunft von Westbengalen?

Wir wollen nicht nur Landwirtschaft, es gibt Alternativen, kleinere Initiativen könnten ermutigt werden. In dem Ort Singur protestieren die Leute, weil die Regierung ihr Land bereits verkauft hat, um eine weitere Freihandelszone zu schaffen. Westbengalen ist ein kleiner Staat, es gibt wenig fruchtbares Ackerland und im Norden befinden sich die Teegärten. Die Besitzer dort reißen die ganze Ernte an sich und kommen damit durch. Dort passierte es, dass eine Frau ihren kleinen Jungen verkaufen musste, weil sie zu arm war, um sich die Bestattungsriten für ihren Mann leisten zu können. Die Regierung sollte gehen, sie hat nichts für die Menschen getan.

Wird bei den derzeit stattfindenden Landtagswahlen die seit 1977 regierende CPI(M) von ihrem Herausforderer, der All India Trinamool Congress [2] geschlagen? Ist die Partei eine bessere Option für die Stammesbevölkerung?

Ich weiß nicht, ob der Trinamool Congress mehr Verständnis für die Belange der Ureinwohner hat. Die Partei will den Unionsstaat regieren und die Fehler der jetzigen Regierung nicht wiederholen. Sollten sie ihr Wahl-Versprechen nicht halten, werden auch sie wieder abgewählt. 2008 war insofern ein wichtiges Ereignis, als die Dorfräte ("panchayat") gewählt wurden, haben die einfachen Leute gegen die Kommunisten und für den Trinamool Congress gestimmt. 33 Jahre lebten sie unter den Kommunisten und haben fast nichts bekommen. Es protestiert also nicht nur die Mittelklasse und Intelligenzija allein.

Welche Rolle spielen die Maoisten in dieser Situation?

Sie haben keine Massenbasis für eine Revolution. Aber ihre Ideologie ist anziehend, weshalb sie von den Leuten respektiert werden. Die Maoisten kämpfen in den unterentwickelten Gebieten für die Rechte der Armen. Das ist es jedenfalls, was sie sagen. Aber die Gewalt – "Ich töte dich, du mich", das ist keine Politik. Wir wollen, dass diese Art der Politik aufhört. Viel Gewalt wird aber auch von der Regierung der Kommunisten begangen. In einem Dorf in West-Midnapore haben sie acht Einwohner getötet.

Haben die Kommunisten noch kommunistische Ideale?

Sie sind so unkommunistisch wie nur irgendwas. Es gibt kein Trinkwasser für die Bauern, kein Wasser, um die Felder zu bewirtschaften und keine Schulen. In einem Staat, in dem die Regierung gegen die Alphabetisierung ist oder gegen eine gute Lokalverwaltung, was kann man da machen? Nach Lalgarh, einer unzugänglichen Gegend, hat die Regierung Polizei entsandt und lässt dort durch ihre Parteikader  Menschen umbringen.

Was ist passiert? Sind die Kommunisten nur am Macherhalt interessiert?

Es sieht so aus. Westbengalen hat eine sehr hohe Rate an Frauen-Misshandlungen und an Verschleppungen von Frauen und Kindern (zwecks Prostitution, Anm. d. V.). Bei der Bildung sind wir ganz unten. Da ich nicht kämpfen kann, schreibe und veröffentliche ich. Zum Beispiel in bengalischem und Hindi-Zeitungen mit Auflagen bis zu 50 Millionen.

Was wäre Ihr Rat an die kommunistische Regierung CPI (Marxist) unter Ministerpräsident Buddhadeb Bhattacharya?

Ratschläge erteilen wir ja ständig. Die Regierung meint ja nicht nur einen Minister. Das gesamte System ist mittlerweile korrupt, von unten bis oben, und das steht der Entwicklung im Weg.

Ist Mamata Banerjee, die jetzige Eisenbahn-Ministerin und Vorsitzende des All India Trinamool Congress die große neue Hoffung?

Die Wähler haben die CPI (M) bei den Panchayat-Wahlen im vergangenen Jahr in vielen Regionen abgewählt haben und ihre Stimme für Mamata Banerjee abgegeben. Ihr Pluspunkt ist, dass sie volksnah ist, jede Frau kann sie ansprechen und sich an ihrer Schulter ausweinen. Sie ist transparent in Geldangelegenheiten, sie war drei Mal Minister und hat dreimal den Job abgegeben. Sie hat die korrupte CPI(M)-Regierung bekämpft und viel gelernt.

Was ist ihr Programm?

Bisher hatte sie noch nicht die Chance ihre politischen Vorstellungen zu realisieren. Aber sie ist ein Name, an den die Menschen glauben.

Wenn Sie reisen könnten, was würden sie machen?

Vor 25 Jahren war ich in den ärmsten Distrikten Westbengalens unterwegs. Jeden Tag bin ich bis zu 15 Kilometern gelaufen. Das kann ich mit meinen 86 Jahren nicht mehr. Doch man lernt Indien am besten zu Fuß kennen, denn es gibt nicht überall Straßen. So habe ich Palamau erkundet, um über seine Bevölkerung zu schreiben.

Haben ihre Bücher die Mittelklasse in Indien bewusster in diesen Dingen gemacht?

Ich denke ja. Nicht viele Schriftsteller sind vor Ort bei den Ureinwohnern gewesen. Ich werde heute als eine der ihren betrachtet. Sie nennen mich Mutter oder Schwester.

Sie haben einmal gesagt, zu träumen sei ein fundamentales Menschenrecht. Könnten Sie mir einen ihrer Träume erzählen?

Trinkwasser für die Gegenden, die ich besucht habe. Es gibt in Westbengalen Distrikte ohne Trinkwasser, oder auch in Rajasthan. Dort gab in einer Gegend einmal einen Fluss, der Wasser mit sich führte und mittlerweile ausgetrocknet ist. Die Sommersonne ist heiß und saugt das Wasser auf. Die Dorffrauen müssen jeden Abend zum Fluss wandern. Dort graben sie über Nacht einen Brunnen, sammeln etwas Trinkwasser und gehen damit vor Sonnenaufgang nach Hause. Das machen sie jeden Tag.

(Das Interview mit Mahasweta Devi führte Susanne Gupta im Februar 2011 in Kalkutta)

Anmerkungen

[1] Die Naxaliten entstanden in den späten 1960er Jahren als maoistische Bewegung und sind nach dem Ort Naxalbari in der Teegartenregion Darjiling in Westbengalen benannt, wo sich 1967 Landlose gegen die dortigen Großgrundbesitzer erhoben.

[2] Die Partei All India Trinamool Congress (bengal.: sarbabharatiya trnamul kamgres; dt.: Gesamtindischer Graswurzel-Kongress) wurde 1997 als bengalische Abspaltung der Kongresspartei gegründet. Auf Bundesebene stützte sie zunächst die hindunationalistische Regierung. Seit 2009 leitet die Parteivorsitzende Mamata Banerjee das prestigereiche Eisenbahnministerium in der Congress-geführten Koalitionsregierung.

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