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16. Januar 2004. Interviews: Wirtschaft & Soziales - Indien Vom Strohfeuer zur Politisierung

Hartmut Regitz über Hoffnungen und Gefahren der Sozialforums-Bewegung

Hartmut Regitz (48) ist Diplom-Sozialarbeiter und freiberuflicher Dozent an Berufsakademien für Sozialwesen. Er ist Mitglied der Aktion 3. Welt Saar, der GEW und von attac.

Zum Weltsozialforum (WSF) findet einmal mehr ein globales Polit-Festival unter dem Dach der "Globalisierungskritik" statt - ein Widerspruch?
Es ist den meisten Delegierten bewusst, dass auch die Sozialforen eine Folge der Globalisierung sind. Deshalb bezeichnen sie sich in der Regel nicht als Gegner, sondern als Kritiker der neoliberalen Globalisierung. Selbst jene, die eher auf die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und von Subsistenzstrukturen in den postkolonialen Ländern setzen, vernetzen sich natürlich global mit ihren PartnerInnen aus andern Kontinenten. Was die Produktivkraftentwicklung betrifft, sind wohl die wenigsten für ein "Zurück zur Scholle".
Gruppen wie Attac erwarten vom WSF "Impulse für soziale Bewegungen" - teilen Sie diese Hoffnung?
Ich würde nicht teilnehmen, wenn ich mir keine Impulse auch für unsere politische Arbeit versprechen würde. Allerdings könnte das Weltsozialforum bald in einer allzu beliebigen Angebotsfülle ersticken und sich statt kritischer Auseinandersetzung der Trend zum "Wohlfühlbiotop" der Mehrheitsströmungen verstärken. Ich habe aber den Eindruck, dass in Mumbai durchaus versucht wird, thematisch zu konzentrieren und die Möglichkeiten des Dialogs zu verstärken.
Führt der "Geist des Aufbruchs" dann auch zu konkreten Ergebnissen?
Nur auf dem 1. Weltsozialforum wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die "Charta", die das WSF als offenes Podium für die Gegner der neoliberalen Verwertung der Welt definiert. Mehr kann meines Erachtens eine solche Erklärung auch nicht leisten. Auf dem letzten WSF wurde der 15. Februar 2003 als weltweiter Demonstrationstag gegen den Irakkrieg beschlossen - daraus hat sich kurzzeitig eine Riesenbewegung entwickelt. Die Frage ist nur, wie kann man die emotionalen Strohfeuer, die sich gegen Kriege anfachen lassen, zu längerfristig wirksamen Politisierungsprozessen nutzen? Darüber wird auf dem WSF kaum gesprochen. Insofern gibt es durchaus die Gefahr, dass das WSF und regionale wie lokale Sozialforen zur Routine erstarren.
Das Treffen in Mumbai erhebt den Anspruch, "einen Rahmen" für Diskussionen "von Fabrik- und LandarbeiterInnen" weltweit zu bieten. Was bekommen die Rechtlosen und Armen vom WSF mit?
Die von der neoliberalen Offensive am härtesten Getroffenen bekommen überhaupt nichts mit. Die Hälfte der Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben, nur 5 Prozent lesen überhaupt eine Tageszeitung. Und weder in Presse noch im Fernsehen kam bisher was über das WSF - erst jetzt beginnt sich das bei lokalen Zeitungen in Mumbai zu ändern. Dennoch werden zehntausende Inder am WSF teilnehmen - mobilisiert und informiert über ihre Netzwerke, Selbsthilfegruppen, Bauern- und Arbeitergewerkschaften. Ich bin aber gespannt, ob es einen wirklichen Austausch mit und unter ihnen geben wird. Die zehntausend Delegierten aus dem Ausland sind meist Profis von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, kirchlichen Gruppen usw., die sowohl ihre Reise als auch ihre Tätigkeit bezahlt bekommen. Meist sind sie in den wenigen Tagen des WSF in besseren Hotels und Touristengettos untergebracht - schade, wenn es dann nicht zumindest auf dem WSF die Gelegenheit gibt, die Probleme der wirklich Armen kennzulernen.
Die Aktion 3. Welt Saar steht der Sozialforums-Bewegung kritisch gegenüber. Wo liegen die Reibungspunkte?
Zum Beispiel in einer auf Börsen und Finanzmärkte verkürzten Kapitalismuskritik. Diese bekommt die Quellen des gesellschaftlichen Reichtums im Produktionsprozess, die dort herrschenden Machtverhältnisse, die Ursachen für die Ersetzung der keynesianischen Regulierung Anfang der 70er Jahre überhaupt nicht in den Blick. Es geht nur noch um die US-Dominanz, Bush, den Irak-Krieg. Und wer lenkt die USA? Immer noch herrscht Skandalisierung von Politik vor, man bestätigt sich gegenseitig in der Ablehnung von Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau. Wo ist die Debatte über das falsche Ganze, wo wird das Denken kritischer Theorie, die Analyse politischer Ökonomie, die theoretische Kontroverse gepflegt? Wo tauscht man sich aus über Erfahrungen der politischen Bildung, über Aktionen des zivilen Ungehorsams, über lokale Wiederaneignung privatisierter Güter? Wir brauchen ein gemeinsames Nachdenken über emanzipatorische Lösungen!

Quelle: Das Interview erschien am 16. Januar 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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