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15. April 2001. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Indien Die Mandal-Kommission

Affirmative Action in Indien

Ein Großteil der sozio-ökonomischen Ungleichheiten in Indien ist auf das Kastenwesen zurückzuführen. In welche der mehreren tausend Kasten ein Mensch hineingeboren wird, bestimmt entscheidend über seinen Zugang zu ökonomischen und sozialen Ressourcen und seine Chancen auf Bildung und anschließende Beschäftigung.

Auch wenn die Bedeutung des Kastenwesens vor allem im städtischen Raum zurückgegangen ist, ist Kastenzugehörigkeit noch immer für die große Mehrheit der Bevölkerung das zentrale Attribut eines jeden Individuums.

So sieht es denn auch die indische Regierung als ihre Aufgabe an, für den Ausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen Maßnahmen zu ergreifen. In diesem Rahmen wird in Indien nach wie vor die Maßnahme favorisiert, staatsfinanzierte Arbeitsplätze für Angehörige bestimmter Kasten zu reservieren.

Diesen Quotierungen kommt eine immense Bedeutung zu, da 80% des organisierten Sektors, zu dem neben Einrichtungen der öffentlichen Hand auch private Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten zählen, in diesen Bereich fallen.

Schon vor der Unabhängigkeit war es üblich, daß in der britischen Administration Posten für die Angehörigen bestimmter Kasten reserviert wurden. Nach der Unabhängigkeit bot dann die indische Verfassung die Grundlage, auf der zunächst 22,5% aller staatlichen Stellen den Angehörigen der benachteiligten Kasten und Stämme (Scheduled Castes (SC, auch Dalits) bzw. Scheduled Tribes (ST)) garantiert wurden. So heißt es in Artikel 15 (2):

"Nichts in diesem Artikel...soll den Staat davon abhalten, spezielle Bestimmungen für die Entwicklung von im Sozial- oder Bildungsbereich rückständigen Klassen von Bürgern, oder von den Scheduled Castes und den Scheduled Tribes, zu erlassen." (1)

Auf die Reservierungspolitik wird in Artikel 16 (4) eingegangen:

"Nichts in diesem Artikel...soll den Staat davon abhalten, spezielle Bestimmungen für die Reservierung von Ernennungen oder Posten für rückständige Klassen von Bürgern, die nach Meinung des Staates nicht adäquat im Staatsdienst repräsentiert sind, zu erlassen." (2)

Somit war nicht nur für die Scheduled Castes und die Scheduled Tribes die Möglichkeit einer besonderen Behandlung vorgesehen, sondern auch für andere als "rückständig" zu bezeichnende Kasten. Zur Identifizierung dieser anderen "rückständigen" Kasten (OBC – Other Backward Classes) wurden zwei Kommissionen einberufen: die "Kaka-Kalelkar-Kommission" (1953) und die "Mandal-Kommission" (1979), die jeweils nach ihren Vorsitzenden benannt sind.

Kaka-Kalelkar-Kommission

Die 1953 einberufene Kaka-Kalelkar-Kommission erarbeitete vier Kriterien zu Identifizierung der OBC´s:

  1. niedrige soziale Positionierung der Kaste in der traditionellen Kastenhierarchie,
  2. geringes Bildungsniveau der Mehrheit der Kastenangehörigen,
  3. ungenügende Repräsentation im öffentlichen Sektor und
  4. ungenügende Repräsentation in Handel und Industrie.

Trotz dieser vagen und dehnbaren Kriterien und der sehr bruchstückhaften indischen Zensusdaten, kam die Kommission auf 2.399 "rückständige Gemeinschaften", von denen 837 als "sehr rückständig" eingestuft wurden. Zu deren Förderung wurden für verschiedene Ebenen des öffentlichen Sektors Reservierungsquoten von 25% bis 40% sowie für die meisten Bildungsinstitutionen 70% vorgeschlagen.

Nach Veröffentlichung des Reports gaben allerdings mehrere der Kommissionsmitglieder, eingeschlossen ihr Präsident Kalelkar, überraschenderweise Erklärungen ab, in denen sie sich von dem Ergebnis des Reports distanzierten. Aus diesem Grund und aufgrund der schwachen Methodologie sowie der großen Zahl der zu begünstigenden Kasten wurden die Vorschläge der Kommission nicht umgesetzt.

In der Folge wurden in den einzelnen Unionsstaaten eine Vielzahl von divergierenden Kriterien und Quoten umgesetzt.

Mandal-Kommission

Die 1979 von Premierminister Morarji Desai eingesetzte Mandal-Kommission führte zunächst ein Sozial- und Bildungserhebung durch, um landesweit die anderen 'rückständigen' Kasten und Gruppen zu identifizieren. Zu diesem Zweck wurden in jeweils zwei Dörfern und einem urbanen Viertel pro Distrikt Daten der regionalen Gruppen erhoben. Dabei wurde nach einem Schema vorgegangen, nach dem für die soziale Situation vier Indikatoren, den Bildungsstand drei und die ökonomische Situation wiederum vier Indikatoren festgeschrieben wurden. Diese beinhalteten unter anderem:

  • Die Kaste wird historisch von anderen Kasten als rückständig angesehen,
  • ihre Mitglieder sind hauptsächlich von manueller Arbeit abhängig,
  • 25% der Frauen und 10% der Männer (über dem Staatsdurchschnitt) heiraten in ländlichen Gegenden, bevor sie das 17. Lebensjahr erreichen, bzw. 10% & 5% in städtischen Gegenden,
  • die Arbeitsbeteiligung der Frauen liegt 25% über dem Staatsdurchschnitt,
  • die nächste Wasserstelle ist für 50% der Mitglieder weiter als 500 Meter entfernt.

Diese Indikatoren wurden je nach Kategorie gewichtet: mit vier Punkten für die soziale Rückständigkeit, drei für die Bildungs- und zwei für die ökonomische Rückständigkeit. Dahinter stand die Auffassung Kommission die Ansicht vertrat, daß soziale Rückständigkeit das entscheidende Element sei, die Bildungssituation das verbindende und die ökonomische Situation das resultierende Element.

Die mittels dieser Kriterien regional bestimmten 'rückständigen' Kasten wurden dann in einer indienweiten Liste zusammengefaßt. Insgesamt kam die Kommission so zu 3.743 als rückständig einzustufenden Kasten, die zusammen etwa 52% der indischen Bevölkerung ausmachen (d.h. es wurden weitaus mehr Kasten als durch die Kalelkar-Kommission identifiziert).

Neben dem Vorschlag der Reservierung von 27,5% der Staatsposten und der Stellen und Plätze in Universitäten und anderen staatlichen Bildungsanstalten wurden von der Kommission Vorschläge zu eigenen OBC-Ministerien, Landreformen, separaten Finanzinstitutionen und separaten Bildungsprogrammen gemacht.

Implementierung

Nach der Fertigstellung im Jahre 1980 blieb der Report der Mandal-Kommission unter den Regierungen von Indira und Rajiv Ghandi (Congress (I)) bis 1990 unangetastet. Erst am 7. August 1990 verkündete Premier V.P. Singh (Janata Dal) überraschend und wohl hauptsächlich aus wahltaktischen Überlegungen die Implementierung der Mandal-Empfehlungen. Dies löste vor allem in Nordindien unter Angehörigen höherer Kasten heftige Proteste aus, die sogar bis zur Selbstverbrennungen in Uttar Pradesh führten.

Bevor jedoch konkrete Gesetze erarbeitet wurden, löste sich die Regierung Singh auf und wurde (nach einer kurzen Übergangsregierung) bei den nächsten Wahlen von einer Minderheitsregierung unter Premier Narasimha Rao (Congress (I)) abgelöst. Rao trieb, auch auf eine Weisung des Supreme Courts hin, die Mandal-Angelegenheit weiter voran und brachte am 25. September 1991 ein umfangreiches Paket mit Gesetzesvorschlägen an die Öffentlichkeit.

Diese gingen sogar noch über die Mandal-Vorschläge hinaus und sahen einerseits Reservierungen von zusätzlichen 10% für die ökonomisch schwächeren unter den Kasten vor, die eigentlich oberhalb der OBC-Kriterien lagen. Nicht nur wurde damit die ursprüngliche Zielsetzung, historische soziale Benachteiligung in Indien auszugleichen, ad absurdum geführt, sondern auch die nach herrschender Meinung geltende 50%-Reservierungs-Grenze durchbrochen. (3) Andererseits wurden ökonomische Kriterien für Bewerber aus den OBCs vorgesehen, um die Wohlhabenderen aus diesen Kasten (creamy layers) von Begünstigungen auszuschließen.

Einige Teilbereiche des öffentlichen Sektors waren nicht für Reservierungen vorgesehen; so unter anderem Streitkräfte, Atomkraftwerke und das Weltraumprogramm, höhere Ministerialstellen sowie Professorenstellen an den meisten Universitäten. Eine genaue Auflistung der reservierungsfreien Bereiche wurde allerdings bis heute nicht veröffentlicht.

Die Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit durch den Supreme Court brachte am 16. November unter anderem folgende Ergebnisse:

  • Die Reservierungen auf der Grundlage der Mandal-Listen sind zulässig,
  • die Einführung von Kriterien zum Ausschluß der Wohlhabenderen aus den "rückständigen" Kasten ist ebenfalls verfassungsgemäß,
  • Reservierungen von 10% für andere als die als OBC identifizierten Kasten sind nicht zulässig,
  • die Reservierungen für die SC/ST bleiben unverändert.

Die Umsetzung des Mandal-Urteils in konkrete Regelungen und Gesetze dauert bis zum jetzigen Zeitpunkt an und läuft in den einzelnen Unionsstaaten in sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit ab.

In der Praxis wird das Reservierungsverfahren meist so durchgeführt, daß ausgeschriebene Posten mit zwei unterschiedlichen Anforderungsprofilen ausgestattet werden, wobei sich Angehörige der OBC auf das niedrigere der beiden berufen dürfen.

Kritik der Methodik der Mandal-Kommission

Zur Identifizierung der OBCs wurde von der Mandal-Kommission ein Katalog mit elf Kriterien aufgestellt. Im Ergebnis enthält der Katalog sowohl Kriterien mit Bezug auf historische Zustände als auch solche mit Bezug auf den aktuellen Zustand, wodurch sich vor allem Kohärenzprobleme ergeben. Als Beispiel seien die Indikatoren des niedrigen Heiratsalters und des Anteils der werktätigen Frauen genannt: So ist es keineswegs der Fall, daß die Heirat in jungem Alter im traditionellen Kastensystem ein Merkmal niedriger Kasten war, sondern vor allem von höheren Kasten praktiziert wurde und wird (und heute zum Teil von niedrigen Kasten nachgeahmt wird). Ein hoher Anteil an arbeitenden Frauen mag umgekehrt früher ein Kennzeichen niedriger Kasten gewesen sein, heute sind es aber oftmals auch die ökonomisch fortgeschritteneren Kasten, in denen Frauen verstärkt die Möglichkeit wahrnehmen, ins Berufsleben einzusteigen.

Interessant ist weiterhin, daß gleich mehrere der Kriterien sich auf Ungesetzlichkeiten bzw. das Unterlassen staatlicher Maßnahmen beziehen. So spiegeln Kriterien die schlechte Versorgung durch den Staat im Bildungssektor wieder oder bezeugen die mangelnde Durchsetzung des Child-Marriage-Acts oder der Trinkwasserversorgungsgesetze. Durch Kriterien dieser Art haben es die benachteiligten Kasten in Staaten wie Kerala, die eher eine Vorreiterrolle bei der Grundversorgung ihrer Bürger innehaben, vergleichsweise schwerer, in die genannten Kategorien zu fallen.

Letztlich hat die Kommission durch die Vielzahl an Kriterien und damit an Wegen, den OBC-Status zu erlangen, sehr viel mehr Gruppen als nur die bedürftigen identifiziert. Nicht nur historisch benachteiligte Kasten, die die Benachteiligungen mittlerweile überwunden haben, sondern auch umgekehrt vormals höhere Kasten, die heute eher verarmt sind, fanden Eingang. Insgesamt haben 52% der indischen Bevölkerung OBC-Status erhalten. Der Anteil der wirklich Bedürftigen wird auf höchstens halb so viele Menschen geschätzt.

Auch die anschließende Anwendung der Kriterien in den Erhebungen, die lediglich in zwei Dörfern und einem urbanen Viertel durchgeführt wurde, ist kritikwürdig. Da die Zusammensetzung der Kasten regional und lokal extrem schwankt, genauso wie ihre jeweilige Reputation oder ihre ökonomischen Wohlstand, konnte bei einer Untersuchung in einem derart geringen Umfang kaum ein realistisches Bild entstehen.

Sicherlich ist die indienweite Erhebung der relevanten Daten extrem aufwendig, doch ist für massive Wohlfahrtsprogramme, wie sie Reservierungen dieser Art darstellen, eine willkürliche Verteilungsgrundlage eher kontraproduktiv. Durchgeführt wurde dieser Minizensus von den Verwaltungsbeamten der jeweiligen Distrikte, deren Ergebnisse in der indienweiten Liste zusammengefaßt wurden, ohne regionale Unterschiede zu berücksichtigen. Dies ist bedenklich, da es schließlich auch um Reservierungen in den sogenannten Central Services geht, z.B. in der Staatsverwaltung oder indienweite Unternehmungen wie der Bahngesellschaft.

Im Abschußbericht der Kommission wird eine genaue Aufstellung der Kasten samt den erhobenen Daten zudem vergeblich gesucht; die gesamte Erhebung bleibt damit äußerst undurchsichtig.

Politische Dimension

Sowohl bei der ersten Verkündung der geplanten Implementierung der Mandal-Vorschläge 1990 durch V.P. Singh, als auch bei dem Gesetzesentwurf der Congress-Regierung eineinhalb Jahre später, sind polittaktische Überlegungen nicht zu übersehen.

Singh geriet im Sommer 1990 unter starkem politischen Druck. Der Jat-Führer und innerparteiliche Rivale Devi Lal trat damals unter scharfer Kritik an Singh aus der Regierung zurück, nachdem sein Sohn, der Ministerpräsident von Haryana, der Korruption angeklagt worden war. Lal kündigte für den 9. August eine große Bauerndemonstration in Delhi an, um politische Stärke zu beweisen.
Zur gleichen Zeit verschärfte sich die Kontroverse um die Babri-Moschee in Ayodhya. Obwohl Singhs Minderheitsregierung von der parlamentarischen Duldung durch die BJP (und der Left Front) abhängig war, weigerte sich der Premier, auf die Forderung nach dem Tempelbau einzugehen. Die BJP steigerte ihre Agitation, indem mit den Vorbereitungen für die Ram-Rath-Yatra begann, eine Propagandatour, die BJP-Chef L.K. Advani ab September 10.000 Kilometer durch Indien führen sollte.

Am 7. August, zwei Tage vor Lals Machtdemonstration, erklärt Singh überraschend, daß er die 10 Jahre alten Empfehlungen der Mandal-Kommission umsetzen will. Der Premier erhoffte sich von diesem Schachzug, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Mit dem Versprechen, den Other Backward Castes erleichterten Zugang zu Verwaltung und Bildung zu gewähren, suchte Singh, seine Gefolgschaft für den Machtkampf mit Janata Dal–Patriarch Devi Lal zu mobilisieren. Gleichzeitig setzte er mit den Mandalpropositionen auf eine Politik der Kastenidentität, um die Hindutva-Welle (von der die Agitationen um die Babri-Moschee in Ayodhya ein Teil war), die immer mehr Unterkasten mitriß, zu schwächen.

Am 7. November stürzte Singhs Regierung, weil die BJP ihre Unterstützung entzog. Sein Nachfolger Chandra Shekar hielt sich nur vier Monate im Amt. Singhs Versuch, sich bei den anstehenden Wahlen als "Mandal-Messiah" zu profilieren, scheiterten. Die folgende Congress-Minderheitsregierung unter Narasimha Rao vollführte (wie Singh zuvor ebenfalls) eine 180-Grad- Wendung von Mandal-Opposition zu einer Befürworterin der Vorschläge. Hier sind die Gründe in anstehenden Regionalwahlen und dem Kampf der Congress-Partei um ihr politisches Überleben zu suchen. In den vom Congress vorgeschlagenen (und vom Supreme Court abgelehnten) zusätzlichen 10% Reservierungen für die ökonomisch schwachen unter den höheren Kasten kann ein Zugeständnis an die traditionelle Wählerschaft der Congress-Partei gesehen werden.

Man kann sich also fragen, ob als Oberziel wirklich eine Überwindung des Kastensystems verfolgt wird, oder ob vielmehr Wahltaktik und Klientelismus im Mittelpunkt stehen.

Notwendigkeit von Reservierungen

Reservierungen jeglicher Art sind ein starker Eingriff in die Chancengleichheit eines jeden Individuums, die in der indischen Verfassung in Artikel 16 (1) garantiert wird. Im indischen Kontext herrscht jedoch die Meinung vor, daß eine Chancengleichheit ohnehin nicht bestehen kann, da das Kastensystem den Bürgern ungleiche Ausgangschancen aufzwingt. Auch wird das Oberziel der Schaffung eines klassen- und kastenlosen Staates höher als die individuelle Freiheit angesetzt. Die individuelle Chancengleichheit wird sogar als kontraproduktiv angesehen, da sie die bestehenden Ungleichheiten eher noch verstärkt.

In der Differenz zwischen dem individuellen Recht auf Chancengleichheit und den Reservierungen, die auf Gruppen gerichtet sind, kann man den Spagat zwischen moderner Zielsetzung und sich weiterhin auswirkenden historischen Realitäten ablesen, dem sich der indische Staat wohl oder übel aussetzen muß.

Im indischen Kontext kann man drei Rechtfertigungen der Reservierungspolitik unterscheiden: das Kompensationsargument, das Argument der proportionalen Gleichheit und das Argument der Machtverteilung.

Kompensierung oder Reparation beruht auf der Idee des Ausgleichs für Benachteiligungen in der Vergangenheit. Problematisch dabei ist, daß weder die aktuellen Nutznießer die zuvor Benachteiligten sind, noch die vormals Höhergestellten nun diejenigen sind, die die Zeche zu zahlen haben. Die Argumentation ist also auf dem Gedanken einer sich durch die Generationen fortsetzenden Gruppenzugehörigkeit begründet - gerade diesen möchte man aber in Indien eigentlich überwinden.

Das zweite Argument der proportionalen Gleichheit ist auf die gegenwärtige Repräsentation der Bevölkerung in staatlichen Funktionen gerichtet. Die Vergabe von Positionen aufgrund von Leistung und Verdienst kann bei extremen bestehenden Ungleichheiten diese verstärken. Durch die proportionale Verteilung auf Gruppen, die nach bestimmten Kriterien (hier: Kastenzugehörigkeit oder sozio-ökonomischer Status) gebildet werden, wird versucht, diesem entgegenzuwirken. In die selbe Richtung geht die Idee, daß Vorteile, die nach der Unabhängigkeit geschaffen wurden, "neuen Besitzstand" darstellen. Ihre Verteilung darf daher nicht auf der Grundlage historischer Gesellschaftsgefüge erfolgen, sondern muß gleichmäßig auf die Bevölkerungsgruppen oder Schichten verteilt werden. Die Folgen liegen jedoch auf der Hand: Zum einen werden die Kastengrenzen gestärkt statt aufgelöst, zum anderen leidet die Effizienz des öffentlichen Sektors erheblich.

Das letzte Argument, das der Machtverteilung, fußt schließlich darauf, daß Positionen im öffentlichen Sektor nicht nur eine ökonomische Dimension besitzen, sondern auch eine politische. Durch eine Verteilung auf die verschiedenen Gruppen soll gewährleistet werden, daß jede auch an der Macht, die die Besetzung von staatlichen Stellen unweigerlich mit sich bringt, partizipiert. Nachteile können sich allerdings dabei aus der indirekten Unterstützung von kastenbezogenem Klientelismus ergeben.

Ausstrahlungseffekte

In die Bewertung der Implementierung der Mandal-Vorschläge sollen abschließend zwei weitere Effekte mit einbezogen werden, die unter dem Schlagwort 'Mandalisierung' zusammengefasst werden und die wohl weitaus stärkere Wirkungen auf die indische Bevölkerung haben werden als die Reservierungen selbst.

Der wichtigste Effekt, sei er unbeabsichtigt oder sogar wohlwollend in Kauf genommen, ist sicherlich die Stärkung des Kastenbewußtseins innerhalb der indischen Bevölkerung. Das Thema "Kaste" hat zum einen erneut eine hohe Medienpräsenz und ist Gegenstand der Diskussion quer durch alle Gesellschaftsschichten. Zum anderen aber hat Kaste auch eine neue praktische Dimension erhalten - sie bestimmt entscheidend die Aussichten auf einen Arbeitsplatz. Symptome dieser Entwicklung sind unter anderem kastenbezogene Gewalttätigkeiten, die sich vor allem in Uttar Pradesh und Bihar häufen.

Der zweite Effekt besteht darin, daß die Verleihung eines Sonderstatus der Rückständigkeit an bestimmte Kasten, der positive Folgen nach sich zieht, zu einer Art Wettlauf um Rückständigkeit geführt hat. Das Merkmal "Rückständigkeit" besitzt nun eine Anziehungskraft, was sich zum Beispiel bei Adoptionen und Heiraten ausdrückt. So wurde gerichtlich geklärt, in welchen Fällen der angeheiratete Partner oder das adoptierte Kind, die aus höheren Kasten stammen, den OBC-Status seines Partners bzw. seiner Eltern geltend machen können. Im Fall der Adoption sind sogar schon Ansätze eines Adoptionshandels auszumachen.

Fazit

Mit der Reservierung von Staatsposten und Plätzen im Bildungswesen verfolgt die indische Regierung das Ziel, die ökonomischen Ungleichheiten, die zwischen Kastengruppen bestehen, auszugleichen. Zur Identifizierung der zu begünstigenden Kasten wurden zwei Kommissionen eingesetzt. Die Methoden beider Kommissionen müssen unter wissenschaftlichen Kriterien als mangelhaft bezeichnet werden; trotzdem wurden die Ergebnisse der zweiten Kommission seit 1991 umgesetzt.

Mehrere Argumente sprechen für die Durchführung von Reservierungen. Zu nennen sind dabei unter anderem die Bevorzugung von historisch benachteiligten Gruppen zum Zweck der Kompensation, die gerechtere Verteilung von Macht und die Stärkung der schwächeren Gruppen durch Partizipation. Die Nachteile, die allerdings in Kauf genommen werden müssen, sind vor allem eine Effizienzverschlechterung durch die niedrigere Qualifikation der Angestellten und die mögliche indirekte Förderung von kastenbezogenem Klientelismus. Als gravierendster Nachteil kommt jedoch zum tragen, daß die Kastengrenzen gestärkt werden. Es entsteht der Eindruck, daß durch die Reservierungspolitik der Beelzebub mit dem Teufel ausgetrieben wird. Denn um die bestehende Kastenstrukturierung zu beseitigen, wird diese als Grundlage der ergriffenen Maßnahmen verwendet - was als Konsequenz gerade in der Bestätigung und Verstärkung derselben resultieren muß.

Anmerkungen

(1) "Nothing in this article ... shall prevent the State from making any special provision for the advancement of any socially of educationally backward classes of citizens or for the Scheduled Castes and Scheduled Tribes."

(2) "Nothing in this article shall prevent the State from making any provisions for the reservation of appointements or posts in favor of any backward class of citizens which in the opinion of the State, is not adequatly represented in the services of the state."

(3) 22,5% für SC/ST, 27,5% für OBC, 10% für andere ökonomisch rückständige Kasten plus 3% für Behinderte.

Quellen

  • Radhakrishnan, P. (1997): Mandal Commision Report. Sociological Critique, in: Srinivas, M. N. (Hg.): Caste. Its Twentieth Century Avatar, New Delhi: Penguin Books India, S.203-221
  • Sivaramayya, B. (1997): The Mandal Judgement. A Brief Description and Critique, in: Srinivas, M. N. (Hg.): Caste. Its Twentieth Century Avatar, a.a.O., S.221-244

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