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15. Juni 2002. Analysen: Politik & Recht - Indien Leitkultur am Ganges?

Geschichtspolitik und Revisionismus in Indien

Der neuerlich eskalierte Kaschmirkonflikt verweist darauf, wie angespannt das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften in Südasien nach wie vor ist. Ein wichtiges Mittel bei der propagandistischen Wegbereitung dieses vermeintlichen "Kampfes der Kulturen" ist die Geschichtspolitik. Seit dem Antritt der hindunationalistischen BJP-Regierung versuchen ihr nahe stehende Historiker verstärkt, die Geschichte Indiens umzuschreiben. Ihr Ziel ist die Homogenisierung der indischen Nation.

Der südasiatische Subkontinent kann in vielfacher Hinsicht als historisches Modell für Multikulturalität gelten. Hier haben fast alle großen Religionsgemeinschaften über Jahrhunderte in engster Nachbarschaft gelebt. Nicht, daß es dabei immer friedlich zugegangen wäre. Doch es haben sich auch Formen eines "co-survival" (Ashis Nandy) herausgebildet. Die Erinnerung daran könnte zur Eröffnung neuer Perspektiven auf die heutigen Konfrontationen - nicht nur in Südasien - beitragen. Dazu muß man freilich die entsprechenden Fragen an die Vergangenheit stellen. Diese aber hängen vom jeweiligen politischen Interesse ab, im gegebenen Fall also davon, ob einem an der Stärkung kultureller Vielfalt oder vielmehr an der Herstellung von Homogenität gelegen ist. Die Geschichte kann ihrerseits zum Austragungsort der aktuellen Konflikte werden.

Welche Bedeutung das multikulturelle Erbe des Landes für das heutige Indien haben soll, ist seit langem strittig. Während die Regierungen der Kongreßpartei dazu neigten, religiöse Differenzen durch die Formel vom säkularen Staat zu neutralisieren, versuchten hindunationalistische Parteien die Dominanz der Hindu-Gemeinschaft ausdrücklich hervorzuheben und politisch festzuschreiben. Entsprechend wurden in den Darstellungen der Vergangenheit entweder die interreligiöse Harmonie oder die Konflikte betont.

Erst jüngst ist diese latente geschichtspolitische Kontroverse in eine neue Runde gegangen. Die seit März 1998 amtierende Regierung der National Democratic Alliance unter Führung der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) ist dabei, ihren Einfluß in den staatlichen Bildungs- und Forschungsinstitutionen durchzusetzen und den öffentlichen Gebrauch der Geschichte unter ihre Kontrolle zu bringen.

Bei der Zusammenkunft des Indian History Congress (IHC) in Kalkutta zu Beginn des Jahres 2001 zeigten sich viele Teilnehmer insbesondere über die Versuche besorgt, die Darstellung der Vergangenheit in den Schulbüchern auf BJP- Linie zu bringen (die Rede ist von "Safranisierung", entsprechend der Parteifarbe der BJP, zuletzt sogar von "Talibanisierung") und die säkularen Prinzipien der Erziehung zu untergraben. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Amartya Sen, warnte in seiner Eröffnungsrede davor, daß die Geschichtsschreibung zu Gunsten einer einseitigen, an den Erfordernissen heutiger Politik orientierten Sichtweise instrumentalisiert wird. In Umsetzung der vom Bildungsministerium erlassenen Direktiven hat der National Council for Educational Research and Training (NCERT) damit begonnen, einige Schulbücher für den Unterricht in den höheren Klassen von der Liste der Lehrmaterialien zu streichen. Nicht zufällig gehören dazu die Werke jener säkular orientierten Historiker wie Romila Thapar, R. S. Sharma und Bipan Chandra, die schon im "Schulbuchstreit" Ende der 70er Jahre von ähnlichen Maßnahmen betroffen waren.

Bereits während der Amtszeit der (hindu-) nationalistischen Janata-Regierung (1977-1980) war der Versuch eines grundlegenden Richtungswechsels in der Kulturpolitik unternommen worden. Damals gerieten besonders die Darstellungen des indischen Mittelalters, also der Zeit der muslimischen Herrschaft, in die Schußlinie. Bemängelt wurde an den vermeintlich marxistisch orientierten Lehrwerken vor allem, daß die religiöse Dimension gegenüber der politischen und ökonomischen vernachlässigt werde. Doch auch die klare Verurteilung der muslimischen Invasoren und der Enthusiasmus für die Verteidiger des Hinduismus wurden vermißt.

Deckmantel der Objektivität

Jetzt wird ein neuer Anlauf genommen, um die Leitlinien für den Geschichtsunterricht zu Lasten der säkularen Prinzipien zu verändern. Neben der Darstellung des Mittelalters geht es nun um das indische Altertum und vor allem um die Frage, ob die 'Arier' als Einwanderer bzw. Eroberer (wie von der klassischen Indologie angenommen) oder als die ursprünglichen Bewohner Indiens zu betrachten seien. Noch sind die bisher verwendeten Lehrmaterialien nicht durch Bücher jener Art ersetzt worden, wie sie in den ca. 70.000 Schulen des Rashtriya Svayam Sevak (RSS), des hinter der BJP stehenden militanten "Nationalen Freiwilligenverbandes" verwendet werden. Statt dessen ist geplant, das Fach Geschichte zu reduzieren und durch einen allgemeinen Sozialkundeunterricht zu ersetzen. Auch so kann man dem auf die Vermittlung säkularer Werte ausgerichteten Geschichtsunterricht ein Stück weit den Boden entziehen.

Mit ihrer Fixiertheit auf Nation und Nationalstaat zeigen sie eine unkritische Anlehnung an den Westen. Denn nach dessen Modell versuchen sie die Homogenität der Nation zu rekonstruieren.

Die hindunationalistische Kritik an der bisherigen säkularen Geschichtsschreibung ist angeblich nur gegen Verfälschungen und Verzerrungen der indischen Geschichte gerichtet, die im Licht wissenschaftlicher Erkenntnis (oder auch aus Rücksicht gegenüber Minderheiten wie den Sikhs) korrigiert werden müßten. Sie wird vorgetragen im Namen der Objektivität der Forschung und in Zurückweisung der "Geschichtspolitik" früherer Regierungen. Statt als Historiker das "minority appeasement" der Kongresspartei zu betreiben, so die Kritiker, müßten die muslimischen Untaten wie die Zerstörungen von (Hindu-)Tempeln und die Zwangsbekehrungen von Hindus beim Namen genannt werden. Statt weiter der kolonialistischen 'Aryan Invasion Theory' anzuhängen, müßten die 'Arier' als indigene Bevölkerung Indiens anerkannt werden.

Tatsächlich ist es jedoch so, daß unter dem Deckmantel demonstrativer Objektivität die politische Ausrichtung der historischen Forschung und Lehre umgekehrt werden soll. Mehr denn je wird Einfluß auf staatlich finanzierte sozialwissenschaftliche Forschungsinstitutionen und kulturelle Einrichtungen genommen. Der Archeological Survey of India führt seit einiger Zeit verstärkt Grabungen an muslimischen Bauwerken durch, um nach Resten früherer Hindutempel zu suchen. Und als in der Mogulstadt Fatehpur Sikri Kultbilder der Jaina gefunden wurden, lastete man deren 'Entweihung' sogleich dem Großmogul Akbar an. Ein neu eingerichteter Ausstellungsraum im Nationalmuseum in Neu Delhi über die Indus-Zivilisation bringt auf subtile Weise Spekulationen über ihren arisch-vedischen (1) Charakter unters Volk.

Die University Grants Commission (UGC) arbeitet an der Vereinheitlichung der Studienpläne im ganzen Land, zu denen zukünftig auch Kurse über vedische Astrologie, Handlesekunst und Hindurituale gehören sollen. Das Erlernen des Sanskrit, das kurzerhand zur "Mutter aller indischen Sprachen" erklärt wird, soll für die Schüler der Klassen 10 bis 12 obligatorisch werden. UGC und NCERT haben begonnen, den politisch verfügten Wandel vom säkularen zu einem hindunationalistischen Erziehungsmodell umzusetzen, in dem angeblich indigene Inhalte und Werte an die Stelle von 'fremden' treten sollen.

Muslime als Erbfeinde

Schon für die Jan Sangh (Vorläuferin der BJP und dominierende Kraft des Janata-Bündnisses) gehörte die Hinduisierung des Geschichtsbewußtseins zur politischen Agenda. Doch der Versuch, ihren Einfluß auf das öffentlich vermittelte Geschichtsbild geltend zu machen, blieb angesichts der kurzen Amtsdauer der Janata-Regierung Ende der 70er Jahre zunächst Episode. Mit dem allmählichen Aufstieg der BJP aber wurde der öffentliche Disput um die Vergangenheit neu entfacht. Diesmal vor allem in Form der Kampagne gegen die Babur-Moschee in Ayodhya, die auf den Resten eines früheren, von Muslimen zerstörten Rama-Tempels erbaut worden sein soll.

Der Kampf um die Erinnerung daran wurde zum Bestandteil des politischen Machtkampfs. Mit dem als "Pilgerzug" deklarierten Marsch auf die Stadt Ramas im September 1990 und der Erstürmung der Ayodhya-Moschee im Dezember 1992 sollte der Primat der Hindus in Indien demonstriert und zugleich ein propagandistischer Schritt zur Eroberung der Parlamentsmehrheit getan werden. Begleitet war die Kampagne von einer Flut historischer Pamphlete, in denen die Vergegenwärtigung muslimischer Invasionen und Zerstörungen in Indien als Opferdiskurs fungierte. Die wohlberechnete Wirkung war, daß viele Hindus darin eine Rechtfertigung der Gewalt gegen islamische Bauwerke (und daran anschließend auch gegen Muslime selbst) sahen. Es wurde suggeriert, das Niederreißen der Moschee könne erlittenes historisches Unrecht wiedergutmachen.

Säkularistisch eingestellte Historiker unterschlagen keineswegs, daß es während der muslimischen Herrschaft massive Tempelzerstörungen gegeben hat, mit dem Ziel, den wahren Glauben gegenüber den 'götzenverehrenden' Hindus durchzusetzen. Sie erinnern aber daran, daß auch Hindus im Verlauf der Geschichte einander nicht immer friedlich gesinnt waren und Muslime mit der Zerstörung von Tempeln nicht immer religiöse, sondern oft banale materielle und politische Zwecke verfolgten.

Sicher sind die Muslime (wie die Angehörigen aller Religionen) gefragt, ihre Haltung zu Andersgläubigen historisch und systematisch zu überdenken. Doch der Versuch, sie aus Indien, wo sich über Jahrhunderte islamische Kultur und Religiosität entfaltet hat, hinauszudefinieren, indem man z.B. jedes alte islamische Bauwerk zu einem hinduistischen erklärt, wird zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Hindus und Muslimen wenig beitragen. Dies braucht jene nicht zu stören, die die Erinnerung ohnehin vor allem zur Pflege des politischen Feindbildes benutzen und von vornherein auf Konflikt zwischen den Religionsgemeinschaften setzen. Konflikt schafft Identitätsbewußtsein, und dieses wiederum erhöht die Durchsetzungskraft im vermeintlich unausweichlichen Kampf der Kulturen.

Indigene Arier?

Es geht in den Augen der sangh parivar (der "Familie" der hindunationalistischen Gruppen und Verbände im Umfeld des RSS) nicht einfach um die Verteidigung verhandelbarer Ansprüche der Hindugemeinschaft gegenüber anderen, sondern um die Durchsetzung einer unveränderlichen, von fremden Einflüssen rein zu haltenden nationalen Ordnung und Zivilisation. Statt wie die Säkularisten Indien als "nation in the making" zu begreifen, setzen die Hindunationalisten die Gemeinschaft als primordial und indigen voraus. Aus diesem Grund sind sie an dem Nachweis interessiert, die 'vedischen Arier' seien die ursprünglichen Bewohner Südasiens gewesen und nicht (wie später die Muslime oder Europäer) als Invasoren ins Land gekommen.

Dieses Nachweises, und überhaupt der Bekämpfung der "Irrtümer und Unwahrheiten, die von linken Historikern und ihren säkularen Sympathisanten verbreitet werden" (Eigenwerbung), hat sich besonders der Verlag Voice of India angenommen. In einem seiner Bände ("Aryan Invasion Theory and Indian Nationalism", 1993) versuchte der Autor Shrikant G. Talageri zu zeigen, daß Indien die "Heimat der 'arischen' oder indo-europäischen Sprachen" ist. Gestützt auf Aussagen der Literatur seit den Veden, beschreibt er die Gliederung der Sprachgebiete im frühen Indien als "ungefähr dieselbe wie heute" und verfolgt, wie sich die arischen Sprachen von dort aus allmählich nach Westen ausbreiteten. Aufgrund dieser sprachhistorischen Befunde gelangt er zu dem Schluß, die indische Nation sei nicht Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, sondern bestehe "seit unvordenklichen Zeiten". Und weder die indische Religion noch ihre Bekenner seien ausländischen Ursprungs.

An der Festigung des Bildes von der Hindunation arbeitet seit Jahren auch Navaratna S. Rajaram, der immer neue Entdeckungen gegenüber der 'Aryan Invasion Theory' geltend zu machen sucht. In Anknüpfung an Talageris Erkenntnisse über die sprachlichen Entwicklungen postuliert Rajaram in The Politics of History (Voice of India, 1995), die arisch-vedische Kultur sei nahe verwandt oder gar identisch mit der Indus-Zivilisation. Die inzwischen in der Archäologie etablierte Einsicht, daß eine Trockenperiode und nicht der Einfall der 'Arier' zum Ende von Harappa und Mohenjo Daro führte, verknüpft er mit anderen Indizien zu dem "Beweis", von frühesten Zeiten an (und die Zeugnisse seien viel älter als von den meisten Forschern angenommen) habe die vedisch- arische Kultur auf dem indischen Subkontinent geherrscht. So reicht aus den Urgründen der Vorgeschichte die indische Existenzweise im Kern unverändert bis in die Gegenwart. Andere Kulturen als die vedische hatten Rajaram zufolge daran keinen Anteil.

Präsentiert wird die "Vedic-Harappan connection" zusammen mit heftiger Polemik gegen die etablierte Geschichtswissenschaft, der nicht nur methodische Unzulänglichkeit attestiert, sondern auch die Unabhängigkeit des Urteils bestritten wird. Die "herausragenden Historiker" stünden alle unter dem Einfluß fremder (nichtindischer) Sichtweisen. Von solcher antikolonialistischer Rhetorik bezieht die hindunationalistische Kritik einen guten Teil ihrer Publikumswirkung. Das demonstrative Bekenntnis zur wissenschaftlichen Objektivität dient der Vernebelung der eigenen politischen Motive.

Während es jedoch im allgemeinen unter indischen Historikern durchaus üblich ist, die eigenen Deutungsformen auf koloniale Residuen hin zu überprüfen, kann von einer solchen Grundlagenreflexion gerade bei den Befürwortern einer Hindu- Revision der Geschichte nicht die Rede sein. Insbesondere mit ihrer Fixiertheit auf Nation und Nationalstaat zeigen sie eine ebenso unkritische wie problematische konzeptuelle Anlehnung an den Westen. Denn nach dessen Modell versuchen sie die Homogenität der Nation zu rekonstruieren.

Die Arbeit an der Indigenisierung der 'Arier' dient dazu, die Vorstellung einer seit jeher bestehenden homogenen Hindunation fest im kollektiven Bewußtsein zu etablieren. Daß deren praktische Umsetzung auch handgreifliche Formen annehmen kann, hat sich bei zahlreichen Gelegenheiten gezeigt. Wenn schon nicht das perspektivisch verengte Langzeitgedächtnis, so könnte vielleicht die noch lebendige Erinnerung an die Jahrzehnte seit der Teilung Indiens im Jahr 1947 die selbsternannten Hüter der Hinduinteressen eines besseren belehren. Die Eigenstaatlichkeit der südasiatischen Muslime hat ethnisierte und religiöse Konflikte innerhalb Pakistans und Indiens nicht verhindert und ein entspanntes Verhältnis zwischen den beiden Ländern gar nicht erst aufkommen lassen. Ein Hindustaat, der die 130 Millionen Muslime im eigenen Land auszugrenzen oder einer hinduistischen 'Leitkultur' unterzuordnen sucht, wird nicht nur die innere Entwicklung Indiens dauerhaft belasten, sondern auch das Verhältnis zu den Hunderten von Millionen Muslimen, die im benachbarten Ausland leben, noch schwieriger machen. Die Verdrängung der in Jahrhunderten gesammelten Erfahrung im Umgang mit dem 'Anderen' oder ihre Reduktion auf den Aspekt der Bedrohung tragen zur Verhärtung und Dauerhaftigkeit der Konflikte in Südasien bei.

Anmerkung:

(1) Das Adjektiv "vedisch" bezieht sich auf die Zeit der Einwanderung und Festsetzung ‚indo-arischer' Stämme in Nordindien (ca. 1500 bis 600 v. Chr.), in der ihre heiligen Schriften (die Veden) entstanden.

Quelle: Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 259 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt aus Freiburg.

Quelle: Eine längere Version dieses Artikels erschien in Internationale Schulbuchforschung 23 (2001), S.465-476.

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