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16. Mai 2014. Kommentare: Indien - Politik & Recht Indien ist Modi

Zum Ausgang der nationalen Wahlen

Narendra Modi, seine Bharatiya Janata Party (BJP) und mit ihr das Parteienbündnis der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) haben die Wahlen zum 16. Indischen Lok Sabha (Parlament) haushoch gewonnen. Das Parteienbündnis der Vereinigte Fortschrittsallianz (UPA) um die Kongresspartei (INC) ist weit abgeschlagen. Die neue Aam Aadmi Party (AAP), die noch vor wenigen Monaten ein Potential erkennen ließ, zu einer neuen national bedeutenden Partei zu werden, hat noch nicht einmal einen Achtungserfolg geschafft. Auch die zahlreichen Regionalparteien haben eher schwach abgeschnitten, mit Ausnahme der tamilischen AIADMK und ihrer Parteichefing Jayalalithaa, die in Tamil Nadu 37 der 39 Wahlkreise gewonnen hat und damit die drittstärkste Fraktion im Parlament stellt. Die BJP könnte mit 283 von 545 Sitzen im Parlament sogar ohne Koalitionspartner regieren, was sie aber aufgrund der gültigen Wahlabsprachen nicht tun wird. In jedem Fall ist diese relativ friedlich und ordentlich verlaufene Wahl ein beeindruckender Sieg für die indische Demokratie. Das Ergebnis könnte eindeutiger kaum sein. Die Konsequenzen sind ungewiss. Skeptiker sehen bereits das Ende des säkularen Staates gekommen, denn der ideologische Hintergrund der BJP und ihres Spitzenkandidaten ist im Hindunationalismus. Noch hat Modi seine neue Rolle nicht gefunden. Im Wahlkampf gab er sich als moderater und wirtschaftsfreundlicher Macher. Das Premierministeramt ist in jedem Fall komplexer als seine alte Rolle als Landesvater in seinem Heimatstaat Gujarat.

Die indischen Unionswahlen übertreffen sich regelmäßig selber. Wie ist nur möglich, dass dieses riesige, immer wieder chaotisch wirkende Land Wahlen durchführen lässt, die trotz gewisser Abstriche immer noch allgemein als einigermaßen rechtmäßige Wahlen weltweit Staunen und respektvolle Anerkennung finden? Zahllos sind die kuriosen Geschichten über weit abgelegene Dörfer, zu denen die elektronischen Wahlmaschinen in tagelangen Märschen an- und abtransportiert werden, über Alte und Behinderte, die von Wahlhelfern zu den Wahlbüros getragen werden, über Menschen, die stundenlang unterwegs sind, um dann in eine endlose Menschenreihe vor dem Wahlbüro einreihen zu können. Shahabuddin Yaqoob Qureishi, von 2010-2012 Vorsitzender der mächtigen nationalen Wahlkommission hat in seinem jüngst erschienenen Buch unter dem Titel "The Making of an Undocumented Wonder" viele solcher kuriosen Details gesammelt und berichtet davon in einer typisch indischen Balance zwischen selbstironischem Plauderton und staatsbürgerlichem Pathos. Auf den Bildern mit den Wählern aus allen Klassen, die mit belustigtem Stolz ihre mit der Spezialtinte nach dem Wahlvorgang markierten Zeigefinger in die Luft halten, inszeniert sich für den Blick der Kamera eine für einen glücklichen Moment in einem demokratischen Konsens innerlich geeinte Gesellschaft.

Die gigantischen Dimensionen dieser jüngsten und wieder einmal größten Wahl der Welt, die Wahl zur 16. Lok Sabha, lässt sich am besten aus der Statistik ablesen. 814 Millionen Wähler waren zu einem Urnengang in acht Wahlgängen in verschiedenen Regionen Indiens gerufen. Die 1,8 Millionen elektronische Wahlautomaten wurden dazu gut bewacht von einer Region in die andere verschoben. 551 Millionen Stimmen für insgesamt 8.251 Kandidaten wurden in den letzten Tagen in 968 Zentren in Anwesenheit von ausgebildeten Beobachtern gezählt – das heißt, 66,38% der indischen Wähler gaben tatsächlich ihre Stimme ab – die höchste prozentuale Wahlbeteiligung bei Unionswahlen seit 1984, als Rajiv Gandhi nach dem Mord an seiner Mutter Indira Gandhi als großer Hoffnungsträger und Obermodernisierer der Nation auf den Thron des Premierministeramtes gehoben wurde. Die Wähler trauten Rajiv Gandhi damals zu, Indien aus der Stagnation der "Hindu rate of growth" mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von durchschnittlich 3,5 Prozent herauszuziehen und zu einer modernen Supermacht zu machen. Von Rajiv Gandhi selbst stammt das geflügelte Wort von Indien "auf dem Weg ins 21. Jahrhundert". Seine Regierung förderte die Entwicklung von Großcomputern, ließ moderne Kläranlagen bauen und begann erste zaghafte Schritte heraus aus der "gemischten Ökonomie" hin zur Wirtschaftsliberalisierung, die dann in den 1990er Jahren Indien im letzten Augenblick vor dem Staatsbankrott bewahrten und wirtschaftliche Wachstumsraten von teilweise über 10 Prozent pro Jahr produzierten. Eine Entwicklung freilich, die vor allem der städtischen Mittelschicht zugute kam und an den Armen mehr oder weniger vorbeiging. Die Schere zwischen arm und reich hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten immer weiter aufgetan.

Der historische Kontext

Vieles in Indien hat sich in den letzten 30 Jahren dramatisch verändert. Die Metropolen sind noch einmal gewaltig gewachsen, und zwar in die Breite und in die Höhe. Doch weit entfernte Stadtteile rücken durch bemerkenswert effektive Schnellbahnen zusammen. Überall wird in unwahrscheinlichem Tempo gebaut und gewerkelt – Büros, Wohnhäuser, Straßen, Schienenwege und Flughäfen schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Versorgung mit Strom und Wasser hat sich unterm Strich klar verbessert. Die breite Einführung von gasbetriebenen Motoren und gewisse Maßnahmen der Kontrolle von industriellem Schadstoffausstoß können als ernsthafter Versuch gelten, die miserable Belastung der Luft in Großstädten zu verringern. Die Einschulungsraten sind sehr viel besser als noch vor 30 Jahren, wenn auch die Qualität des staatlichen Ausbildungssystems von der Grundschule zur Universität vielerorts sehr zu wünschen übrig lässt. Aufgrund der hohen Investitionsbereitschaft der indischen Mittelschicht in die Ausbildung der eigenen Kinder entstehen überall in Indien Privatschulen und Colleges, wenn auch neben international konkurrenzfähigen Eliteausbildungsgängen sehr viel Minderwertiges am Bildungsmarkt angeboten wird.

Überhaupt: Die Liste der Defizite ist lang, und viele Inder haben keinerlei Hoffnung auf den Staat. 2004 führte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter Atal Bihari Vajpayee ihren nationalen Wahlkampf für eine Neuauflage ihrer Koalitionsregierung unter dem Slogan "Shining India". Diesen demonstrativen Nationalstolz haben ihm die Wähler und Wählerinnen nicht mehr abgenommen und prompt wieder die alte, von Rajiv Gandhis Witwe Sonia im Hintergrund gesteuerte Kongresspartei als stärkste Partei in die Regierungsverantwortung gewählt und 2009 noch einmal bestätigt – nicht etwa, weil die Wähler die hindunationalistisch gefärbte nationale Oppositionspartei BJP aus ideologischen Gründen ablehnten, sondern wohl vor allem, weil sie die Regierungskoalition unter Atal Bihari Vajpayee abstraften. Das kam der guten alten Kongresspartei zugute. Heute dagegen richtet sich die Unzufriedenheit des Volkes gegen die Kongresspartei, die völlig ausgezogen dasteht.
Korruptionsskandale und vor allem das auf unter fünf Prozent nachlassende Wirtschaftswachstum haben ihren Schatten über die zweite Legislatur von Manmohan Singh geworfen. Nach zehn Jahren im Premierministeramt wirkt er heute alt und verbraucht. In den frühen 1990er Jahren war er als Finanzminister der Initiator der wirtschaftlichen Liberalisierung. Als Premierminister erarbeitete er sich dagegen einen Ruf als Zauderer und Schönredner, der weder zu weiteren Liberalisierungsschritten noch zur Aufarbeitung von Korruptionsfällen in seiner Regierung in der Lage war. Darüber hinaus hielt sich das Gerücht, dass in Wirklichkeit Sonia Gandhi die Strippen zog und systematisch den nächsten Stammhalter der Dynastie, ihren Sohn Rahul Gandhi aufbaute. Die wirtschaftlichen Signale, die die Regierung Singh setzte, waren wenig einheitlich. Einerseits Armutsbekämpfungsprogramme, andererseits wirtschaftliche Liberalisierung, dabei ist das Außenhandelsdefizit in den letzten Jahren ständig gewachsen, während der Wert der Rupie drastisch gesunken ist.

Modi

Zu dem zukünftigen Premierminister Narendra Modi ist in den letzten Monaten weltweit in der Presse viel geschrieben worden. Der 63-jährige Narendra Modi ist ein eingefleischter Polit-Aktivist. Seine Wahlkampagne war ein Kraftakt ohnegleichen. Indische Zeitungen berichten, er habe 437 Wahlveranstaltungen abgehalten und mehr als 410.000 Kilometer im Wahlkampf zurückgelegt. Die Energie dazu gewinnt er aus seinem zölibatären Leben, so wird mit Hochachtung gemunkelt. Als Ministerpräsident (chief minister) hat er seinen Heimatstaat Gujarat, wie es heißt, wie eine Firma geführt und vermittelte dank dem überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Erfolg in seinem Heimatstaat den Ruf des unparteiischen Machers, ja des Modernisierers.

Darin scheint er ein wenig dem Rajiv Gandhi der 1980er Jahre zu ähneln. Anders als Gandhi jedoch, der von seiner Mutter nach dem Tod seines Bruders Sanjay als Außenseiter in die Politik eingetreten war, hat sich Modi allerdings über Jahrzehnte hinweg mühsam politisch hochgearbeitet. Doch ähnlich wie Rajiv Gandhi und vorher schon seine Mutter Indira Gandhi die Kongresspartei dominierten und stark personenbezogene Wahlkämpfe führten, so ist Modi nach diesem Wahlkampf und dem hohen Wahlsieg heute die unbestrittene Führungsautorität in der BJP. Der autoritäre Stil Modis war wohl auch der Grund, warum sich der ehemalige Parteivorsitzende Advani gegen seine Nominierung als Spitzenkandidat ausgesprochen hatte. Im Glanz dieses außerordentlichen Wahlsieges spielt jedoch fürs erste der innerparteiliche Widerstand gegen Modi keine Rolle mehr. Modi ist die BJP, und die BJP ist Modi.

Als Premier wird sich Modi noch neu erfinden müssen. Im Wahlkampf ist es ihm gelungen, sich über das hindunationalistische Lager hinaus als energischer Verfechter des nationalen Konsenses darzustellen. Die Optimisten unter seinen Gegnern hoffen, dass es dabei bleibt. Rahul Gandhi, der Spitzenkandidat der Kongresspartei, hat es noch nicht einmal im Ansatz vermocht, gegen dieses selbstbewusste Image zu kontern. Modi ließ sich weder von politischen Gegnern noch von Journalisten aufs Glatteis führen. Dabei ist der ideologische Hintergrund des Spitzenkandidaten der BJP zweifellos besorgniserregend. Modi, der aus einfachen Verhältnissen stammt, trat schon als Jugendlicher in die Hindu-Miliz "Rashtriya Svayamsevak Sangh" (RSS) ein, wo er sich zum "Pracharak" hocharbeitete – eine Vollzeitberufung für einen voll disponiblen Mitarbeiter. Als solcher ging er in die Politik, wurde Ministerpräsident in Gujarat und rückt nun an die Spitze der Union. Modis politische Heimat ist somit, was man gemeinhin unter dem Begriff "Hindunationalismus" versteht.

Ist Modi also im Grunde seines Herzens ein gefährlicher Eiferer, der den ganzen Staat im Sinne des Hindunationalismus ummodeln will? Es besteht einiger Grund zur Besorgnis. Als Modi 2002 angesichts der Pogrome gegen Muslime nach dem Brandanschlag auf einen Zug mit Hindu-Pilgern, die von Ayodhya kamen, nicht gegen die Unruhestifter und Mörder Stellung nahm, schien sich zu bestätigen, was man von ihm wusste: Dass er nämlich in den Minderheiten Fremdkörper in Indien sah, gegen deren kollektive Bestrafung er nichts ernsthaft einzuwenden hat. Der Schuld für das wochenlange tatenlose Zusehen der Sicherheitskräfte blieb auf den Schultern seiner damaligen Innenministerin hängen, die eine langjährige Gefängnisstrafe absitzt.

Die eigenartige Passivität Modis bei diesen Ereignissen trug ihm internationale Ächtung ein. In Europa und den USA wurde der Ministerpräsident in Gujarat zur persona non grata. Erst im Oktober 2012 empfing ihn der britische Hochkommissar James Bevan demonstrativ in Delhi, was einem Rehabilitierungsakt gleichkam, dem sich Modi auch ohne Widerspruch unterwarf. Später wurde dann auch das zehnjährige Einreiseverbot in der Europäischen Union und in die USA stillschweigend aufgehoben.

Zukunftsperspektiven

Arvind Kejriwals neue "Aam Aadmi Party" (AAP) - die "Partei des einfachen Mannes", die aus den Massenprotesten gegen Korruption unter Führung von Anna Hazare vor einigen Jahren hervorgegangen ist, hätte man vor einigen Monaten noch zugetraut, zu einer neuen national bedeutsamen Kraft im indischen Politikzirkus zwischen Kongress, BJP und Regionalparteien zu werden. Als Ministerpräsident in Delhi hat er jedoch ungeschickt agiert und nach 49 Tagen an der Macht das Handtuch geschmissen, als sich BJP und Kongress in der Opposition gegen sein Antikorruptionsgesetz für Delhi verbündeten. Damit hat er seine Sympathien bei den Wählern verspielt. Doch er bewies ungewöhnlichen Mut, als er es wagte, sich ausgerechnet in Varanasi als Kandidat aufstellen zu lassen und dort gegen den übermächtigen Narendra Modi zu kandidieren. Kejriwal legt den Finger auf die wunden Punkte des Politsystems wie kein anderer. Politik ist durchaus ein schmutziges Geschäft in Indien, bei dem es um Geld, Macht und Einfluss und oft weniger um die Sachthemen geht. Es ist eine traurige Tatsache, dass rund ein Fünftel der Kandidaten zur Lok Sabha, das indische Parlament, in Strafgerichtsverfahren bis hin zu Mord verwickelt sind.

Die AAP hat als Parteisymbol den Besen, mit dem sie diesen Stall ausmisten will. Kejariwal wirft Modi vor, dass er die Interessen der Unternehmer vertritt und im Kampf gegen die Korruption keine strengen Maßstäbe anlegt. In der Tat: Modi gilt zwar als Modernisierer und Wirtschaftsförderer, doch das Thema Korruption ist ein heißes Eisen, an dem man sich leicht die Finger verbrennen kann. Die hohe Aggressivität, mit der Modi seinen Gegenangriff gegen den kleinen Kejriwal führte, macht deutlich, dass Modi hier eine echte Herausforderung wittert. Kejriwal stehe mit den Maoisten, den Amerikanern und sonstigem Gesindel unter einer Decke.

Wird Modi auch als Premierminister solche aggressiven Tiraden fahren? Die Kongresspartei konnte ihm schon bisher praktisch kein Paroli mehr bieten. Sie wird nun in eine schmerzhafte Phase der Selbstbesinnung hineinschlittern und vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Rahul Gandhi ist politisch erledigt, doch neue Führungsgestalten sind nicht in Sicht – jedenfalls nicht solche, die das Zeug haben, die BJP herauszufordern. Wahrscheinlich wird er demnächst zum muslimischen Pilgerort Ajmer in Rajasthan fahren, wie das auch viele seiner Vorgänger zu Beginn ihrer Amtszeiten getan haben. Er wird sich nun bemühen, die Ängste der Minderheiten zu beschwichtigen, auch um den Rücken für seine Wirtschaftspolitik frei zu bekommen. Gleichzeitig muss er aber auch die Radikalen in seiner eigenen Partei im Blickfeld behalten.

Unklar ist, wie er den Forderungskatalog des Hindunationalismus an den Staat weiter betreibt, etwa im Bildungswesen oder in der Außenpolitik. Wird er etwa konfrontativ gegen China und Pakistan auftreten und das Militärbudget noch weiter erhöhen? Falls zufällig das Wirtschaftswachstum von derzeit unter fünf Prozent wieder auf mindesten acht Prozent steigt, werden die Wähler und Wählerinnen ihm bis auf weiteres die Stange halten und vielleicht auch an einem aggressiveren Auftreten Gefallen finden. Die Minderheiten werden sich angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse jedenfalls bemühen, unter dem Radar des neuen Premierministers abzutauchen.

 

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