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21. Mai 2004. Analysen: Politik & Recht - Indien Manmohan Singh

Ein Nutznießer der (Un-)Gunst der Stunde

Indiens Ministerpräsident Manmohan Singh gilt als sehr integrer und geradezu unpolitischer Politiker.

Seinen Turban trägt Manmohan Singh hoch ins Haupt geschoben. Diese Tragart ist so etwas wie ein Markenzeichen, weil es so uncharakteristisch ist für Sikhs, die mit einer tief in die Stirn gebundenen Turbanschleife oft an ihre martialische Tradition erinnern wollen. Singh ist kein typischer Sikh. Er spricht mit leiser Stimme, tritt fast scheu auf, und statt mit militärischen Orden könnte er nur mit akademischen renommieren, läge ihm dies nicht fern.

1932 im heute pakistanischen Teil des Punjab geboren, gelang ihm trotz einer armen Kindheit in Amritsar der Sprung an die Universität. Dort erhielt er ein Stipendium für Cambridge und dann für Oxford, wo er den Doktortitel in Ökonomie erwarb.

Das Indien der 50er-Jahre war noch erfüllt vom Pioniergeist Nehrus, der mit Staatskontrollen das Land rasch auf die Entwicklungstufe der Industrienationen bringen wollte. Singh ging nach Indien zurück, wo er an der "Delhi School of Economics" lehrte, mit Kollegen wie Jagdish Bhagwati und Amartya Sen. Doch seine Neigung zur praktischen Umsetzung der Theorie ließ ihn 1972 einen Posten im Finanzministerium annehmen.

1982 wurde er Gouverneur der Zentralbank, darauf Leiter des Planungsministeriums und ein Vertreter seines Landes im IWF. 1987 folgte er dem Ruf Julius Nyereres als Sekretär der Süd-Kommission. Die globalen Verwerfungen der Nach-Sowjetzeit brachten ihn 1990 als Wirtschaftsberater des Premiers nach Delhi zurück.

Im Juni 1991 ernannte ihn Premierminister Narasimha Rao zum Finanzminister. Singh sollte helfen, die schwere Liquiditätskrise des Landes zu lösen. Er nutzte die Ungunst der Stunde. Das Krisenmanagement wurde zur Chance, dem Staatsinterventionismus mit strukturellen Reformen allmählich die Luft abzuschneiden. Als Spitzenbürokrat war Singh selbst ein Architekt der alten Doktrin einer gelenkten Wirtschaft gewesen. Aber als Ökonom erkannte er zunehmend deren hohe Kosten. Er hatte den Mut, das umfassende staatliche Regelwerk auszumisten. Der Abwertung der Rupie folgten die Senkung der Zölle, die Öffnung des Landes für Direkt- und später Finanzinvestitionen.

Singh war als Akademiker in die Politik gerutscht, und seine - für lokale Verhältnisse beinahe beschämende - Integrität machten ihn im korrupten Betrieb der indischen Demokratie zum Außenseiter. Singh ist seit 1991 Parlamentsabgeordneter. 1998 verlor er seinen bisher einzigen Wahlkampf. Sonia Gandhi holte ihn nach der schmerzlichen Niederlage als Berater ins Parteipräsidium zurück. Sein mildes Wesen und das offensichtliche Fehlen jeder politischen Ambition machten ihn in der Kongresspartei-Zentrale zum beliebten und geachteten Fachmann.

Es war ausgerechnet diese Unscheinbarkeit ebenso wie seine reine Weste, die ihn als Gandhis Stellvertreter ins Vorzimmer der Macht brachten. Und es war eine weitere Ungunst der Stunde - Sonia Gandhis Verzicht -, die ihn nun auch über die Schwelle der Macht schob."

Quelle: Der Beitrag erschien am 21. Mai 2004 in der "Tageszeitung" (taz).

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