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15. Dezember 2008. Analysen: Politik & Recht - Indien Ladehemmung beim Jihad

Nach den Anschlägen in Mumbai fordern Politiker und Medien schärfere Gesetze. Doch an Befugnissen mangelt es der indischen Polizei nicht.

Es hätte ein PR-Coup für die indischen Sicherheits­behörden werden können, ein dringend benötigter Fahndungserfolg angesichts der Kritik an Geheimdienst und Polizei, die seit dem Ende der Attentatsserie von Mumbai immer vehementer formuliert wird. Aber wieder einmal erwiesen die Behörden sich als inkompetent, als sie versuchten, einen Islamisten zu verhaften, der verdächtigt wird, für Attentate in Hyderabad im vorigen Jahr mitverantwortlich zu sein.

Im Mai und im August 2007 waren an belebten Plätzen und in einer Moschee während des Freitagsgebetes ferngezündete Bomben explodiert und hatten mehr als 60 Menschen getötet. Einige der für die Attentate Verantwortlichen sollen Kontakt zu der Vereinigung Lashkar-e-­Taiba (LeT) unterhalten, der die jüngsten Angriffe in Mumbai zugeschrieben werden. Dementsprechend gut hätte sich die Festnahme von Viqaruddin Ahmad verkaufen lassen. Das Mitglied der verbotenen Studentenvereinigung Simi (Students Islamic Movement of India) war Mitte des vergangenen Jahres untergetaucht.

Mehrere Tage observierten Ermittler einer Anti-Terror-Einheit den Mann in der Altstadt Hyderabads. Am 3. Dezember erfolgte schließlich der Zugriff. Drei unbewaffnete Polizisten in Zivil klopften ihm auf die Schulter und wollten ihn festnehmen. Daraufhin sahen die offenbar überraschten Beamten in den Lauf einer Handfeuerwaffe. Viqaruddin Ahmad schoss mehrmals, bevor seine Pistole wegen einer Ladehemmung versagte – ein indisches Fabrikat, wie die Behörden später erklärten.

Ein Polizist erlitt eine Bauchverletzung, die anderen beiden stürzten sich auf den Verdächtigen, der jedoch von drei Männern befreit wurde, die ihrerseits Waffen zückten, sofort das Feuer eröffneten und einen Beamten trafen. Die Polizisten hatten die unauffälligen Begleiter bei der vorausgegangenen Observation schlicht übersehen. Inzwischen sind die beiden verletzten Polizisten außer Lebensgefahr und die vier Flüchtigen vermutlich jenseits der Stadtgrenzen.

Erstaunlicherweise fand die Meldung von dem Fahndungsdebakel in den nationalen Medien kaum Erwähnung. Lediglich in Hyderabad sorgte das Fiasko für Empörung und einen Eklat im Parlament des Bundesstaates Andhra Pradesh. Einen Tag nach dem misslungenen Zugriff gingen Angehörige mehrerer Oppositionsparteien auf Mitglieder der regierenden Kongress-Partei los, warfen der Landesregierung Inkompetenz vor und griffen Abgeordnete tätlich an. Im Laufe der Auseinandersetzung ging es immer weniger um Fragen der inneren Sicherheit, sondern mehr um persönliche Streitigkeiten. Das politische Establishment bot den Fernsehzuschauern ein erbärmliches Bild: keifende, übergewichtige Parlamentarier, Handgemenge, Chaos.

Seit den Attentaten von Mumbai beherrschen Wut und Empörung die öffentliche Debatte. Der Unmut richtet sich in erster Linie gegen islamistische Terroristen und gegen Pakistan, mittlerweile artikuliert sich aber auch ein diffuses Ressentiment gegen das politische Establishment.

"Wir Inder sind verletzt und wütend wie nie zuvor", konstatierte Premierminister Manmohan Singh am 29. November. Die von der Kongress-Partei geführte Koalitionsregierung UPA (United Progressive Alliance) muss der aufgeheizten Stimmung Rechnung tragen, ein Großteil der indischen Massenmedien verbreitet kriegerische Parolen. Die Regierung darf gegenüber Pakistan nicht schwach oder nachgiebig erscheinen, hat jedoch an einem militärischen Konflikt kein Interesse. Denn die neue Zivilregierung Pakistans, die es ohnehin schwer hat, sich gegen das Militär und den Geheimdienst ISI zu behaupten, würde durch eine Eskalation geschwächt.

Derzeit verlangt die indische Regierung die Auslieferung von drei Terrorverdächtigen, unter ihnen Hamid Gul, ein ehemaliger Leiter des ISI. Indische Medien berichteten am Wochenende von einem 48-stündigen Ultimatum seitens der USA und Indien. Sollten nach Ablauf der Frist die Islamisten nicht ausgeliefert worden sein, erwäge Indien Luftangriffe auf vermutete Camps islamistischer Gruppen in Pakistan, so die Tageszeitung The Hindu. Am Montag dementierte die US-Regierung, dass es ein solches Ultimatum gebe. In Pakistan wurde ein Lager der LeT von Soldaten gestürmt, die mehr als ein Dutzend Verdächtige festnahmen. Ob es sich um einen Fahndungserfolg oder nur um eine Geste des guten Willens handelt, ist noch unklar.

Nicht verifizierte Meldungen und vorschnelle Rückschlüsse sind nicht selten in der indischen Berichterstattung. Derzeit wird vor allem das Tun der meisten Fernsehsender während der 60-stündigen Terrorkampagne kritisiert. Die Sender unterlegten die Bilder aus Mumbai teilweise mit bombastischem Bollywood-Sound, verbreiteten mehrere Falschmeldungen und lieferten überdies mit ihrer Live-Berichterstattung den Terroristen aktuelle Lageberichte.

Die kritische Reflexion der Rolle der Medien nimmt in einigen Zeitungen beachtlichen Raum ein. Allerdings sind Zeitungen im Gegensatz zu Hörfunk und Fernsehen wenig verbreitet. Auch in den ländlichen Gegenden finden sich Fernseher inzwischen selbst in den meisten ärmeren Haushalten. Dem Zensus von 2001 zufolge können gerade einmal 61 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben, unter den Frauen beträgt die Alphabetisierungsquote gar nur knapp 48 Prozent.

"Ich denke, die allgemeine Stimmung ist Verbitterung über die Politiker", sagte ein NGO-Mitarbeiter aus Mumbai der Times of India. Vor allem die als politisch wenig interessiert geltende Mittelschicht fordert schärfere Maßnahmen. Während die meisten Bombenattentate der vergangenen Jahre auf Marktplätzen und Bahnhöfen stattfanden, Orten, an denen sich reiche und wohlhabende Inder selten aufhalten, traf der Angriff auf das Oberoi- und das Taj-Mahal-Hotel die Besitzenden Indiens offenbar ins Mark. Am Mittwoch voriger Woche strengte eine Gruppe von Unternehmenssprechern, Bankern und Anwälten ein Verfahren gegen die Regierung an, weil diese ihre Pflicht, den Schutz der Bürger zu gewährleisten, vernachlässigt habe.

In zahlreichen indischen Städten fanden Mahnwachen und meist kleinere Demonstrationen statt. Auffällig dabei war die Teilnahme vieler Angehöriger der Mittel- und Oberschicht. So sprach Mukhtar Abbas Naqvi, der stellvertretende Vorsitzende der hindu-nationalistischen BJP, abfällig von den "Frauen mit Lippenstift und Gesichtspuder", die Politiker auf den Straßen verunglimpfen würden. Seine Partei hat sich inzwischen von den Äußerungen distanziert.

Je nach Definition leben zwischen 25 und 36 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut, und auch die meisten Inder, die einen regulären Job haben, verdienen im Monat nicht genug, um sich für einen Tag im Taj Mahal einzuquartieren, wo das billigste Zimmer 200 Euro pro Nacht kostet. "Was haben arme Menschen wie wir in so einem Gebäude auch verloren", rechtfertigte ein Polizist gegenüber der Times of India sein anfängliches Zögern, das Hotel zu betreten.

Soziale Unterschiede, auch das direkte Nebeneinander von bitterster Armut und prächtigstem Reichtum, werden in Indien weithin akzeptiert. Zwar begehren maoistische Naxaliten sowie einige linke Intellektuelle und Gruppen gegen die sich verschärfende soziale Ungleichheit auf. Doch das sind die Ansichten einer Minderheit. Angesichts einer Bedrohung, die als Angriff aus dem Ausland wahrgenommen wird, rückt die Gesellschaft noch enger zusammen. Den Angegriffenen in den Luxushotels, darunter auch einige Abgeordnete der Kommunistischen Partei Indiens, die im Taj Mahal dinierten, als die Terroristen kamen, gilt die größte Aufmerksamkeit. Prominenten und Mächtigen nicht nur besondere Beachtung, sondern vor allem auch Privilegien zuzugestehen, gehört zum Alltag in Indien.

Der "nationale Konsens" scheint auch die muslimische Minderheit einzuschließen. Nach den Attentaten wurde noch kein Fall von kommunalistischer Gewalt, Kämpfen zwischen Angehörigen verschiedener religiöser Gruppen, bekannt. Dass Terroristen in Pakistan verantwortlich gemacht werden und einige muslimische Verbände sich deutlich von islamistischer Gewalt distanziert haben, hat die Atmosphäre zumindest momentan entspannt. So verzichteten auch etliche muslimische Gruppen auf die traditionellen Demonstrationen am 6. Dezember, dem Jahrestag der Zerstörung der Babri-Masji-Moschee durch Hindu-Nationalisten. Deren Kampagne führte 1992 zu Pogromen gegen Muslime in mehreren Städten, bei denen mehr als 2.000 Menschen getötet wurden.

Das Potenzial für kommunalistische Konflikte ist jedoch weiterhin vorhanden. Die Gewalt extremistischer Hindus wird von der BJP verharmlost, gerechtfertigt und in vielen Fällen auch begünstigt und gefördert. Auch unter den Muslimen gibt es extremistische Gruppen. Überdies gibt es Diskriminierungen und sozio-ökonomische Benachteiligungen, die islamistische Gruppen ausnutzen können, ebenso wie die Brutalität der Polizei. Willkürliche Verhaftungen, Folterungen und das "Verschwinden" von Verhafteten gehören zum Standard, zu strafrechtlicher Verfolgung kommt es nur in Ausnahmefällen.

Der indischen Polizei mangelt es nicht an Befugnissen, sie ist schlecht ausgerüstet und ineffektiv organisiert. Moderne Waffen und Kommunikationsgeräte standen in Mumbai nur den Terroristen zur Verfügung, Korruption ist weit verbreitet, und mit einer Beförderung wird, nicht nur bei den Sicherheitsbehörden, belohnt, wer sich durch besondere Loyalität zu einer Partei oder einem Politiker hervorgetan hat. Darüber spricht das politische Establishment ungern. Was reformiert werden soll, bleibt in der Debatte über die innere Sicherheit unklar. Die Verschärfung von Sicherheitsgesetzen könnte die Konflikte eher noch eskalieren lassen. So sorgt der Armed Forces (Special Powers) Act in Gebieten, die als krisenhaft eingestuft werden, faktisch für Straffreiheit. Mehrere Berichte von Human Rights Watch belegen systematische Verbrechen der Sicherheitskräfte in Kaschmir und anderen Bundesstaaten. Betroffen sind neben verdächtigten Islamisten vor allem Angehörige indigener Gruppen, Kastenlose und Oppositionelle. Doch die Regierung ist nicht bereit, das umstrittene Gesetz zu reformieren, und derzeit finden bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte nur selten Erwähnung, wenn es um die Terrorbekämpfung geht.

Quellen

Dieser Beitrag erschien im Original am 11. Dezember 2008 in der Jungle World.

 

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